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Gesellschaft
20 Januar 2020, 20:11

Meinung: Wie blinde Menschen durch Hörfilme die Kunst entdecken

Das belarussische Filmerbe wird dank der Audiodeskription für sehbehinderte und blinde Zuschauer immer zugänglicher. Die ersten Hörfilme sind auf dem offiziellen YouTube-Kanal des Nationalen Filmstudios „Belarusfilm“ weithin verfügbar. Der Direktor der soziokulturellen Einrichtung „MozArt“, Redakteur beim Internet-Radio des Belarussischen Sehbehindertenverbandes Alexander Kaloscha erzählte im Interview mit BelTA über die Geschichte der Audiodeskription in Belarus, über die Rückmeldung der Zuschauer und neue Projekte.

BelTA: Wie ist man auf die Idee gekommen, belarussische Filme für Blinde und sehbehinderte Menschen zugänglich zu machen?

- Im Jahr 2005 habe ich begonnen, belarussischer Volksmärchen aufzunehmen. Danach folgten Hörbücher, die ich aufnahm und veröffentlichte. Im Grunde genommen sind belarussischsprachige Hörbücher zu 80 Prozent meine Arbeit. Ich habe zum Beispiel den gesamten Korotkewitsch im Hörformat aufgenommen. Hörbücher sind beliebt, sie werden im Auto, auf der Straße gehört. Aber es gibt Menschen, die solche Hörbücher sehr dringend benötigen. Ich spreche von sehbehinderten Menschen. Dieses Thema liegt mir am Herzen, ich kenne die Probleme und Bedürfnisse dieser Menschen. Ich wollte schon immer nicht bloß Rollsstuhlrampen bauen oder Blinden das Gehen mit dem Stock beibringen, sondern mich durch Kunst und Kreativität für die Integration einsetzen. So bin ich auf diese Idee gekommen.

Im Jahr 2017, als die soziale und kulturelle Institution „MozArt“ gegründet wurde, entstand die Idee, belarussische Filme für blinde und sehbehinderte Menschen mit Untertitelung auszustatten. Vorher habe ich für den „Radio BelTIZ“ (Rundfunk des Sehbehindertenverbandes) Hörfilme gemacht. Mit demselben Vorschlag kam ich zur Leitung von „Belarusfilm“. Wir wurden sofort unterstützt und schlossen einen Vertrag für die Audiodeskription von 12 besten Werken des Filmstudios „Belarusfilm“ ab – die sog. Goldene Dutzend. Dieses Projekt nannten wir „Filme ohne Grenzen.“ Wir sind dem „Belarusfilm“ dankbar, für ihr Verständnis, Freundlichkeit und ihre Barmherzigkeit, mit denen sie mit uns umgegangen waren.

BelTA: Die Audiodeskription ist ein sehr mühsamer Prozess. Haben die Zuschauer diese Arbeit eingeschätzt?

- Die Audiodeskription macht Kunstwerke für Menschen mit einer starken Sehbehinderung zugänglich. Dieses Format hilft diesen Menschen bei der sozialen Eingliederung und Rehabilitation. Für sie sind unsere Filme ein Fenster zur Welt. Auf diese neue Art und Weise können sie diese Welt entdecken. Nach der Audiodeskription wurden die Hörfilme kostenlos in den Kinos des Landes gezeigt. Jetzt sind sie für alle YouTube-Nutzer auf dem offiziellen „Belarusfilm“-Kanal abrufbar. Alle Filme sind mit einem entsprechenden Logo versehen.

Mit Hilfe der Technik der verbalen Beschreibung visueller Informationen können Blinde sich Videosequenzen vorstellen und so den Inhalt des Films verstehen. Zusammen mit ihrer Familie können sie sich den Film zu Hause ansehen. In den Kommentaren unter den eingestellten Videos hinterlassen die Benutzer Worte der Dankbarkeit für die geleistete Arbeit. Viele positive Kommentare kommen von jungen Zuschauern, was besonders angenehm ist. Es gab einen Fall, der uns zutiefst erschüttert hat. Während der Vorführung eines bekannten Kinderfilms reagierten sehbehinderte junge Zuschauer im Saal so lebhaft – sie trampelten mit den Beinen, sprangen auf, klatschten in die Hände – dass wir sofort wussten: Sie „sehen“, was auf der Leinwand gerade los ist. Diese Reaktion spornt uns weiter an, diese Arbeit fortzusetzen.

BelTA: Wie viele Menschen beschäftigen sich mit der Audiodeskription?

- Ein Team aus zwei oder drei Personen und ein Cutter arbeiten an der Schaffung der semantischen Komponente von Hörfilmen. Alle Spezialisten der Institution „MozArt“ verfügen über internationale Qualifikationsnachweise. Ich bin bereits als Experte nach Polen zu internationalen Seminaren und Schulungen über Audiodeskription eingeladen. In Osteuropa gilt Belarus als ein Land, in dem die Hörfilme auf einem hohen Niveau produziert werden. Wir ernten viel Lob, obwohl es in unserem Land noch keine großflächige Anwendung dieser Methode gibt.

BelTA: Was ist das Besondere an dieser Methode?

- Vor der Arbeit an einem Hörfilm schauen sich die Audiodeskriptoren das Werk sehr genau an und merken sich so viele Details wie möglich. Dann beschreibt der Experte das Geschehen auf der Leinwand. Es gibt eine Sondertechnik, wie man Filme beschreibt: Man nennt Ort, Zeit und so weiter. Auf keinen Fall sollte man eine emotionale Einschätzung dessen abgeben, was auf dem Bildschirm geschieht. Audiodeskriptoren sollten den Film nicht interpretieren und auch nicht sagen, in welchem emotionalen Zustand sich die Figur gerade befindet. Es ist notwendig, die Szene einfach, klar, prägnant und notwendigerweise zwischen den Dialogen zu beschreiben. Dialoge, die für den Kontext wichtig sind, sollten gut zu hören sein, genauso wie Lärm, der oft im Kontext eine wichtige Bedeutung hat.

Bei der Vorbereitung eines Hörfilms gibt es Schwierigkeiten mit der Übersetzung. Die Audiodeskription ist ein kreativer Prozess. Manchmal ist es nicht klar, ob der Name der handelnden Person am Anfang einer Szene oder erst später genannt werden soll. Manchmal stellen wir fest, dass wir einfach nicht genug Zeit haben, alles zu beschreiben: Die Ereignisse lösen einander mit Windeseile ab. Manchmal bleibt mehr Zeit zum Beschreiben, aber manchmal muss man das Gegenteil tun - nicht alles im Detail beschreiben, denn der Blinde wird das Geschehen selbst darstellen. Oder man muss die Musik und den Hintergrund hören lassen.

Wenn der Text fertig ist, hört sich das Team die Arbeit etwa zehnmal an. Der Film wird immer von Sehbehinderten getestet – sie nehmen Korrekturen vor, sagen, welche Momente für die Wahrnehmung unverständlich sind. Dann denken wir darüber nach, wie wir das Bild neu gestalten, etwas hinzufügen, d.h. beschreiben, so dass die Person das gehörte Bild quasi „sehen“ kann. Der Sprecher nimmt den Text in einem Tonstudio auf, der Kommentar soll zwischen die Dialoge passen. Das klappt nicht immer, obwohl wir alles in Sekundenschnelle planen. Und dann werden die Bildbeschreibungen mit dem Originalton abgemischt. Der Tontechniker reinigt die Geräusche oder hebt den Ton an, wo es notwendig ist.

BelTA: Die Audideskription betrifft nicht nur die Produktion von Hörfilmen. Welche Projekte für Sehbehinderte sind noch in Diskussion?

- Es ist wirklich ein ziemlich weites Thema. Es ist möglich, Sportveranstaltungen für Blinde zu beschreiben oder Wettbewerbe im Stadion. Das ist in vielen Ländern er Welt bereits die Realität. Kunstobjekte und Architekturdenkmäler werden beschrieben. Dreidimensionale Objekte können angefasst werden. Unsere Spezialisten haben 25 Gemälde beschrieben, die im Nationalen Kunstmuseum hängen. Sehbehinderte können auch eine Aufführung des Akademischen Kupala-Nationaltheaters genießen. Ein Audioguide erhalten Blinde bei der Besichtigung des Marc-Chagall-Museums in Witebsk.

Ein neues Projekt, an dem wir im Moment arbeiten, ist das Buch über die belarussische Aufklärerin Euphrosyne von Polozk. Dieses Buch ist in Brailleschrift geschrieben. Es enthält eine Ikone, die die Sehbehinderte anfassen können, oder auch ein Kreuz. Auf einer einzelnen Seite wird die Ikone schriftlich beschrieben, z.B. „auf ihrem Haupt trägt sie ein Reifen“, „das ist ein Mantel“, „in ihren Händen hält sie ein Kreuz“, „das fliederfarbene Gewand oder ein Chiton ist von einem roten Mantel bedeckt“.

„MozArt“ hat ein gemeinsames Projekt mit dem Verlag „Narodnaja Asweta“ durchgeführt – zum ersten Mal in Belarus haben wir ein Geschichtsbuch für blinde Schulkinder herausgegeben. Das Hörbuch wurde in einem speziellen Format - DAISY - aufgenommen. Es ist sehr bequem für blinde Menschen, insbesondere für diejenigen, die dank einer guten Navigation lernen können. Nehmen wir an, das gewöhnliche Buch klingt 15 Stunden, es ist schwierig, die richtigen Kapitel oder Abschnitte schnell zu finden. Mit dem neuen Format braucht der Mensch nur einen Knopf zu drücken, um eine richtige Stelle im Buch zu finden. Es war schwierig, das Projekt umzusetzen - wir haben jedes Wort, jeden Satz geprüft und viel aufgezeichnet. Aber wir haben ein solches erstes Buch gemacht.

Von den sehbehinderten und blinden Menschen kommt der Wunsch, mehr modernes Kino und Kinderfilme zu sehen. Wir wollen den Film „Kupala“ als Hörfilm produzieren. Das wäre einmalig, wenn gleich mit dem Original ein Hörfilm in die Kinos kommen würde.

Leider gibt es nicht weniger blinde Menschen, und niemand ist vor dieser Katastrophe gefeit. Filme für Sehbehinderte werden auch in 10 und 20 Jahren an Aktualität nicht verlieren. Wir haben in der Tat viele Ideen, aber alles hängt von ihrer Finanzierung ab. Wir sind eine gemeinnützige Organisation, wir erhalten keine Gewinne aus unseren Projekten. Natürlich haben wir Förderer und Helfer. Wenn ein Privatunternehmen an unseren Projekten interessiert ist und uns unterstützen will, ist das großartig. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein... Es ist eine edle Aufgabe, blinden Menschen zu helfen, diese Wahrheit in vollem Maße zu spüren.

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