
Im Juni 2006 wurde in Minsk das neue Gebäude der Nationalbibliothek von Belarus eröffnet. Es ist nicht nur ein einzigartiger Ort mit der reichsten Büchersammlung, sondern auch ein riesiges multifunktionales Zentrum. Bei der Entscheidung für diesen Bau träumten die Belarussen laut Alexander Lukaschenko davon, ein Gebäude zu errichten, das ein nationales Symbol des jungen, unabhängigen Landes sein, seine Visitenkarte werden und die wichtigsten Charaktereigenschaften des belarussischen Volkes verkörpern sollte. Ein Volk, das nicht als Aggressor, Invasor und Zerstörer, sondern als Arbeiter und Schöpfer in die Geschichte einging. In dieser Ausgabe von „Postfactum: Beschlüsse des Ersten“ erzählen wir, warum der Bau des belarussischen „Diamanten“ für die belarussischen Behörden eine gewisse Herausforderung und ein Risiko darstellte, gleichzeitig aber auch eine wahrhaft nationale Sache war. Wir zeigen, was Alexander Lukaschenko nach der Eröffnung der Nationalbibliothek gestand und ob Belarus auf einen solchen „Riesen“ verzichten könnte. Wir werfen auch einen Blick ins „Allerheiligste“ und finden heraus, wie das Buchdepot organisiert ist und welchen Weg die Dokumente durchlaufen, bevor sie in die Hände der Lesenden gelangen.
Interessante Fakten über die Nationalbibliothek von Belarus
Die Nationalbibliothek von Belarus blickt auf eine mehr als 100-jährige Geschichte zurück. De jure beginnt ihre Geschichte am 15. September 1922, dem Tag, an dem der Rat der Volkskommissare der BSSR eine Resolution „Über die Gründung der Belarussischen Staatsbibliothek und die obligatorische Registrierung aller in der SSRB veröffentlichten Pressewerke“ verabschiedete. Das erste Gebäude der Bibliothek war das bekannte Jubiläumsgebäude in der Sacharjewskaja Straße (heute Prospekt der Unabhängigkeit). Vor dem Ersten Weltkrieg beherbergte das Gebäude ein kirchlich-archäologisches Museum in der erzbischöflichen Residenz. Es wurde anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Herrschaft des Hauses Romanow errichtet und nach diesem benannt. Innerhalb dieser Mauern befindet sich heute ein Tempel zu Ehren der Heiligen Apostel Methodius und Kyrill. Es gibt hier wohl eine gewisse Kontinuität.

In der Bibliothek herrschte schon bald akuter Platzmangel. Berichte und Briefe veranschaulichten die damaligen Zustände im Gebäude detailliert: Es fehlte eine elektrische Beleuchtung, weshalb die Lesesäle in Halbdunkel gehüllt waren. Zudem war die Belüftung unzureichend, eine große Staubschicht auf Büchern, Regalen und Möbeln. Auch der unhygienische Zustand der Treppen und Flure wurde beschrieben.
Anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens wurde die Bibliothek im Jahr 1932 nach Wladimir Lenin benannt. Im selben Jahr bezog sie ein neues Gebäude, das ihr für die nächsten 70 Jahre ein Gesicht geben sollte. Am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges umfasste der Bestand der Bibliothek rund zwei Millionen Bücher und Dokumente. Sie zählte zu den dreißig besten Bibliotheken der Welt. Der Krieg verursachte jedoch irreparable Schäden. Die Nazis plünderten, entfernten und zerstörten mehr als eineinhalb Millionen Bände und beschädigten das Gebäude durch Explosionen schwer. Die Invasoren verbrannten den Saal des Reservefonds zusammen mit fast einer halben Million Büchern.
Bereits eine Woche nach der Befreiung von Minsk begannen die Arbeiten zur Wiederherstellung des belarussischen „Wissenstempels“. Die Bibliotheksbestände wurden Stück für Stück zusammengetragen. Bald darauf begann man in Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, nach geraubten Büchern zu suchen. Innerhalb von zwei Jahren waren die Bestände zahlenmäßig wiederhergestellt und erreichten das Vorkriegsniveau, wenngleich viele Lücken bis heute nicht geschlossen werden konnten.
Wann begann der Bau der Nationalbibliothek?
Im Jahr 1992 erhielt die Staatsbibliothek der BSSR einen neuen Status und wurde als Nationalbibliothek von Belarus bekannt. Zehn Jahre später unterzeichnete Alexander Lukaschenko einen Erlass über den Bau eines neuen Bibliotheksgebäudes. Der Bau wurde zum wichtigsten staatlichen und nationalen Bauprojekt erklärt.
„Wir beginnen ein großes Unterfangen: den Bau der Nationalbibliothek des Landes. Dieser Bau ist nicht nur ein Erfordernis der Zeit, sondern auch ein echter Beitrag zum Wohlergehen und zum Wohlstand von Belarus in der Gegenwart und vor allem in der Zukunft“, sagte das Staatsoberhaupt bei der Eröffnung der Bauarbeiten.
Der belarussische „Diamant des Wissens“ wurde in dreieinhalb statt der ursprünglich geplanten sechs Jahre errichtet. Um das bereits in den 1980er Jahren entwickelte Projekt gab es viele Streitigkeiten. Nicht umsonst hatten die sowjetischen Behörden Angst, mit der Umsetzung zu beginnen. Es galt, eine große Verantwortung zu übernehmen, da ein solch einzigartiges und technisch komplexes Bauwerk zum ersten Mal in Europa errichtet wurde.
Man entschied sich dafür, das Gebäude nach dem „Thermos“-Prinzip zu bauen. Es wurde aus Stahlbeton gefertigt und mit Glas verkleidet. Die Grundlage dafür war ein starkes Fundament – mehr als 150.000 Tonnen Beton wurden verbaut. All das habe viel Nerven, Arbeit und Geld gekostet, räumte das Staatsoberhaupt ein. Aber der Präsident erkannte, dass das Land nicht über Kultur reden, sondern echte Taten zeigen muss. Dank dieses Ansatzes wurden in Belarus viele bedeutende Objekte, Museen und Theater gebaut und rekonstruiert.

Normalerweise wird ein Gebäude nach einem vorgefertigten Projekt errichtet. Beim Bau der Nationalbibliothek gab es in der Anfangsphase jedoch nur ein Modell. Daher arbeiteten Planer und Bauarbeiter parallel. Während der Bauphase waren 3.000 Bauarbeiter in drei Schichten im Einsatz. Ununterbrochen. Bei jedem Wetter. Das ganze Land beobachtete den Bau des neuen Objekts. Der Bau der Nationalbibliothek wurde wirklich national. Arbeiter aus allen Teilen der Republik und mehr als 130 Unternehmen waren auf der Baustelle tätig. Unterstützt wurden sie von Studenten der Minsker Universitäten. Der belarussische Präsident hielt hier zweimal einen landesweiten Subbotnik (Samstagsarbeitseinsatz) ab. Das grandiose Projekt wurde vom Staat finanziert, aber auch den Belarussen war es nicht gleichgültig – sie überwiesen ihre Spenden. Auch ausländische Partner unterstützten das Projekt. So wurde die Nationalbibliothek von Belarus zu einem verbindenden Symbol der Nation und der schöpferischen Kraft des belarussischen Volkes. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie sofort zu einer Visitenkarte des Landes wurde.
Warum ein neues Gebäude für die Nationalbibliothek gebaut wurde?
„Es war im Allgemeinen ein Weg ins Ungewisse“, sagt Wadim Gigin, Generaldirektor der Nationalbibliothek. Es war ein Projekt aus den späten 1980er Jahren. Ein Projekt, das viele Menschen für futuristisch hielten – und das war es auch. Manche hielten es sogar für fast unmöglich, es zu verwirklichen – vor allem, wenn Belarus dies allein stemmen würde. Damals war es ein Experiment, ein Risiko. Aber man hat sich trotzdem darauf eingelassen.

Laut Wadim Gigin hätte Belarus, das sich in jenen Jahren noch als unabhängiger souveräner Staat begreifen wollte, ein solches städtebauliches und architektonisches Symbol erhalten sollen.
„Dies ist nicht nur eine Lösung für die Probleme der Nationalbibliothek: Sie war auf fast zwei Dutzend Gebäude verteilt, Bestellungen wurden nur langsam bearbeitet und die Warteschlangen waren riesig. Auch das ist wichtig, dieses Problem musste gelöst werden. Aber sie ist auch ein Symbol. Warum ist die Nationalbibliothek so bekannt geworden und so beliebt bei den Belarussen und den Gästen unseres Landes? Wenn wir ‚unabhängiges und souveränes Belarus‘ sagen, welche Symbole können Sie dann nennen? Selbst unter Schulkindern ist die beliebteste Antwort das Gebäude der Nationalbibliothek“, sagte Wadim Gigin.

Der Bau der Nationalbibliothek war ein wichtiger Impuls für die Entwicklung vieler Bereiche der belarussischen Industrie und Kunst. Schon vor Beginn der Arbeiten war es eine der Hauptforderungen des Präsidenten, alles selbst zu machen – ohne ausländische Fachleute und in hoher Qualität. In diesem neuen Gebäude hatten Künstler verschiedener Generationen zum ersten Mal seit vielen Jahren die Möglichkeit, ihr volles Potenzial zu zeigen, sagte das Staatsoberhaupt.
Ursprünglich wollten wir eine Bibliothek bauen, am Ende entstand jedoch ein multifunktionales Informations-, gesellschaftspolitisches und kulturelles Zentrum, das zu einem Ort für internationale Treffen auf höchstem Niveau geworden ist.
„Wir müssen alles selbst machen. Sogar Dinge, die wir nicht haben. Zum Beispiel die Spinnenhalterungen für das Glas. Wir wussten nicht, wie man das macht. Wir haben das alles von jemand anderem gekauft. Aber am nächsten Tag konnten wir es selbst. Deshalb haben wir diese Technologien entwickelt: die Spinnenhalterungen, das Glas, das wir in Gomel herstellen werden. Denn wir müssen nicht nur dieses Gebäude, sondern alle Gebäude im Land, die wir bauen wollen, mit unserem eigenen Glas, unseren eigenen Befestigungen usw. ausstatten. Und alles, was Sie sehen, ist von uns“, betonte Alexander Lukaschenko nach der Eröffnung des neuen Bibliotheksgebäudes.

Was es in der Nationalbibliothek zu sehen gibt?
Mehr als eine Woche lang wurden Bücher in die Bibliothek transportiert. Es wurden zwölf Verladestellen festgelegt und jeden Tag kamen etwa ein Dutzend Lastwagen zum „Diamanten“. Insgesamt mussten sie 391 Fahrten absolvieren. In 52 Tagen wurden 8 Millionen Dokumente bewegt! Es würde etwa 40 Jahre dauern, alle hier gelagerten Dokumente durchzugehen, wenn man kontinuierlich alle zwei Minuten ein Dokument bearbeiten würde.

„Wir sind stolz auf die Bücher von Skoryna in unserer Sammlung. Sie sind unser Heiligtum. Skorynas Bücher sind ein Symbol für eine hohe kulturelle Entwicklung. Schon in der Renaissance waren die Belarussen in vielerlei Hinsicht Vorreiter. Aber wir haben auch Bücher von anderen Pionieren. Wir haben zum Beispiel eine sehr interessante Sammlung orientalischer Bücher. Übrigens ist sie ziemlich alt – darunter befinden sich handgeschriebene Bücher aus dem Mittelalter. Unter den modernen Büchern befinden sich sehr wertvolle Werke, die von berühmten Schriftstellern und politischen Persönlichkeiten gestiftet wurden. Dazu gehören auch Bücher, die der Präsident der Republik Belarus persönlich gestiftet hat“, so der Generaldirektor der Nationalbibliothek.
Im Jahr 2018 ehrte Alexander Lukaschenko die Mitarbeiter der Nationalbibliothek mit einem der wichtigsten Präsidentenpreise, dem Preis „Für geistige Wiederbelebung“, für ihre Arbeit an der Faksimile-Rekonstruktion und Popularisierung des Bucherbes von Franzysk Skoryna. Um die Bibliothek beim Erwerb von handgeschriebenen und gedruckten Buchdenkmälern zu unterstützen, stellt der Fonds des Staatsoberhaupts zur Förderung von Kultur und Kunst regelmäßig Mittel für diesen Zweck zur Verfügung.

Die Bibliothek verfügt über 18 Lesesäle mit insgesamt 2.000 Plätzen, die sich auf drei Etagen verteilen. Die meisten Säle sind zu besonderen Komplexen zusammengefasst. Jeder Komplex verfügt über einen Vorraum, in dem sich Ausleihstühle, Regale und ein geschlossener Teil des Hilfsfonds befinden.
„Im Hochregallager werden fast zehn Millionen Dokumente aufbewahrt. Die Bestände sind vom 6. bis zum 16. Stockwerk untergebracht. Jedes Stockwerk ist in Segmente unterteilt und die Dokumente werden direkt in diesen gelagert. Hier sind die Bedingungen für die Erhaltung der Sammlungen gegeben. Es gibt ein automatisches System zur Temperatur- und Feuchtigkeitskontrolle sowie ein eingebautes System zur Staubentfernung. In der Abteilung für Bucherhaltung und in der Abteilung für die Lagerung von Spezialsammlungen werden Dokumente ab dem Jahr 1801 aufbewahrt. Ältere Ausgaben werden unter besonderen Bedingungen und in speziellen Regalen aufbewahrt“, erklärt Natalja Andrejewa, Leiterin der Abteilung Buchlagerung, und gibt damit Einblick in die Feinheiten des Bibliotheksbetriebs.

Doch wie gelangen die Bücher aus dem Lager in die Hände der Leser? Das automatische Einschienen-Transportsystem „Telelift“ sorgt für eine schnelle Lieferung der Literatur in die Lesesäle.
„In der Mitte unseres ‚Diamanten‘ befindet sich die Verteilungshalle, in der die Bestellungen der Benutzer eingehen. Hier drucken wir die Bestellungen über das Informationssystem aus, um eine Anforderung für die Erfüllung des Dokuments im entsprechenden Segment zu erhalten. Das ‚Telelift‘-System verfügt über eine Einschienenbahn mit einer Länge von etwa 770 Metern, auf der sich etwa 30 Behälter bewegen. Diese bringen die Dokumente zu den Lesesälen“, erklärt der Leiter der Abteilung.

Was macht das Gebäude der Nationalbibliothek von Belarus einzigartig?
Aus der Vogelperspektive erscheint die Nationalbibliothek in ihrer ganzen Pracht. Es handelt sich um einen Rhombus-Kubik-Oktaeder, ein komplexes Polyeder aus 18 Quadraten und 8 Dreiecken, das auf dem Stylobat steht. Dank dieser architektonischen Lösung befindet sich die Hauptsammlung nicht unter der Erde, wie es bei den meisten Bibliotheken der Fall ist, sondern im Obergeschoss, im sogenannten „Kristall“. Die Form eines geschliffenen Diamanten symbolisiert nach der Idee der Autoren den Wert des Wissens und die Unendlichkeit der erfassbaren Welt.

Die Beleuchtung des Gebäudes ist ein mehrfarbiger Bildschirm - eine Medienfassade, die täglich bei Sonnenuntergang eingeschaltet wird. In Höhe des 23. Stockwerks befindet sich eine Aussichtsplattform, die einen schönen Blick auf Minsk bietet. Das Glas sollte übrigens laut Projekt gold-silberfarben sein. Es würde jedoch etwa zwei Jahre dauern, es auf Bestellung zu produzieren. Da man nicht mehr warten konnte, wurde das Projekt vereinfacht. Trotzdem ist das Glas immer noch außergewöhnlich und äußerst stabil: Es ist nicht mit einem Vorschlaghammer zu zerbrechen.
„Einmal im Jahr, von April bis Oktober, wird das Gebäude gereinigt. Dabei werden etwa 47.000 Quadratmeter Fassade gereinigt. Es gibt auch eine Verglasung im Inneren des Gebäudes. Das Hochregallager wird von Industriekletterern gereinigt, die über ein Zertifikat verfügen, eine spezielle Ausbildung absolviert haben und in der Höhe arbeiten dürfen“, so Wiktoria Kowalewskaja, Leiterin der Wirtschaftsabteilung.

Auf dem Platz vor dem Haupteingang der Bibliothek befindet sich ein Denkmal für den belarussischen Aufklärer Franzysk Skoryna. Der Haupteingang ist symbolisch in Form eines aufgeschlagenen Buches mit Bildern über die Entwicklung der Welt und der slawischen Schrift sowie mit Worten aus der Bibel von Skoryna „Damit der Mensch Gottes vollkommen sei“ in 19 Sprachen der Welt gestaltet.
Nach der Eröffnung der Nationalbibliothek gab Alexander Lukaschenko zu, dass die Entscheidung, sie zu bauen, seine Antwort auf die Moderne war. Er wolle auf diese Weise dem gedruckten Wort Tribut zollen, so der Präsident.
„Dies ist meine Antwort auf die Moderne. In dieser Hinsicht bin ich wahrscheinlich konservativ, denn ich idealisiere das Buch. Man muss zugeben, dass das Buch heutzutage an Bedeutung verliert. Unsere Kinder sind nicht mehr so begierig auf Bücher wie wir es waren. Es gibt viele sogenannte Ersatzprodukte für das Buch. Und ich möchte das Buch unsterblich machen. Dies ist eine Hommage an das Buch. Es ist das erste Mal, dass ich darüber spreche. Für mich persönlich ist es ein Denkmal für das Buch. Wir dürfen das Buch auf keinen Fall verlieren. Das Buch ist alles“, betonte der belarussische Staatschef.
Die Lebensdauer des neuen Gebäudes der Nationalbibliothek wird auf 500 Jahre geschätzt. Man stelle sich nur vor, wie viele Generationen noch Zeit haben werden, die schöpferische Kraft des belarussischen Volkes zu schätzen!
Interessante Fakten über die Nationalbibliothek von Belarus
Die Nationalbibliothek von Belarus blickt auf eine mehr als 100-jährige Geschichte zurück. De jure beginnt ihre Geschichte am 15. September 1922, dem Tag, an dem der Rat der Volkskommissare der BSSR eine Resolution „Über die Gründung der Belarussischen Staatsbibliothek und die obligatorische Registrierung aller in der SSRB veröffentlichten Pressewerke“ verabschiedete. Das erste Gebäude der Bibliothek war das bekannte Jubiläumsgebäude in der Sacharjewskaja Straße (heute Prospekt der Unabhängigkeit). Vor dem Ersten Weltkrieg beherbergte das Gebäude ein kirchlich-archäologisches Museum in der erzbischöflichen Residenz. Es wurde anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Herrschaft des Hauses Romanow errichtet und nach diesem benannt. Innerhalb dieser Mauern befindet sich heute ein Tempel zu Ehren der Heiligen Apostel Methodius und Kyrill. Es gibt hier wohl eine gewisse Kontinuität.

In der Bibliothek herrschte schon bald akuter Platzmangel. Berichte und Briefe veranschaulichten die damaligen Zustände im Gebäude detailliert: Es fehlte eine elektrische Beleuchtung, weshalb die Lesesäle in Halbdunkel gehüllt waren. Zudem war die Belüftung unzureichend, eine große Staubschicht auf Büchern, Regalen und Möbeln. Auch der unhygienische Zustand der Treppen und Flure wurde beschrieben.
Anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens wurde die Bibliothek im Jahr 1932 nach Wladimir Lenin benannt. Im selben Jahr bezog sie ein neues Gebäude, das ihr für die nächsten 70 Jahre ein Gesicht geben sollte. Am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges umfasste der Bestand der Bibliothek rund zwei Millionen Bücher und Dokumente. Sie zählte zu den dreißig besten Bibliotheken der Welt. Der Krieg verursachte jedoch irreparable Schäden. Die Nazis plünderten, entfernten und zerstörten mehr als eineinhalb Millionen Bände und beschädigten das Gebäude durch Explosionen schwer. Die Invasoren verbrannten den Saal des Reservefonds zusammen mit fast einer halben Million Büchern.
Bereits eine Woche nach der Befreiung von Minsk begannen die Arbeiten zur Wiederherstellung des belarussischen „Wissenstempels“. Die Bibliotheksbestände wurden Stück für Stück zusammengetragen. Bald darauf begann man in Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, nach geraubten Büchern zu suchen. Innerhalb von zwei Jahren waren die Bestände zahlenmäßig wiederhergestellt und erreichten das Vorkriegsniveau, wenngleich viele Lücken bis heute nicht geschlossen werden konnten.
Wann begann der Bau der Nationalbibliothek?
Im Jahr 1992 erhielt die Staatsbibliothek der BSSR einen neuen Status und wurde als Nationalbibliothek von Belarus bekannt. Zehn Jahre später unterzeichnete Alexander Lukaschenko einen Erlass über den Bau eines neuen Bibliotheksgebäudes. Der Bau wurde zum wichtigsten staatlichen und nationalen Bauprojekt erklärt.
„Wir beginnen ein großes Unterfangen: den Bau der Nationalbibliothek des Landes. Dieser Bau ist nicht nur ein Erfordernis der Zeit, sondern auch ein echter Beitrag zum Wohlergehen und zum Wohlstand von Belarus in der Gegenwart und vor allem in der Zukunft“, sagte das Staatsoberhaupt bei der Eröffnung der Bauarbeiten.
Der belarussische „Diamant des Wissens“ wurde in dreieinhalb statt der ursprünglich geplanten sechs Jahre errichtet. Um das bereits in den 1980er Jahren entwickelte Projekt gab es viele Streitigkeiten. Nicht umsonst hatten die sowjetischen Behörden Angst, mit der Umsetzung zu beginnen. Es galt, eine große Verantwortung zu übernehmen, da ein solch einzigartiges und technisch komplexes Bauwerk zum ersten Mal in Europa errichtet wurde.
Man entschied sich dafür, das Gebäude nach dem „Thermos“-Prinzip zu bauen. Es wurde aus Stahlbeton gefertigt und mit Glas verkleidet. Die Grundlage dafür war ein starkes Fundament – mehr als 150.000 Tonnen Beton wurden verbaut. All das habe viel Nerven, Arbeit und Geld gekostet, räumte das Staatsoberhaupt ein. Aber der Präsident erkannte, dass das Land nicht über Kultur reden, sondern echte Taten zeigen muss. Dank dieses Ansatzes wurden in Belarus viele bedeutende Objekte, Museen und Theater gebaut und rekonstruiert.

Normalerweise wird ein Gebäude nach einem vorgefertigten Projekt errichtet. Beim Bau der Nationalbibliothek gab es in der Anfangsphase jedoch nur ein Modell. Daher arbeiteten Planer und Bauarbeiter parallel. Während der Bauphase waren 3.000 Bauarbeiter in drei Schichten im Einsatz. Ununterbrochen. Bei jedem Wetter. Das ganze Land beobachtete den Bau des neuen Objekts. Der Bau der Nationalbibliothek wurde wirklich national. Arbeiter aus allen Teilen der Republik und mehr als 130 Unternehmen waren auf der Baustelle tätig. Unterstützt wurden sie von Studenten der Minsker Universitäten. Der belarussische Präsident hielt hier zweimal einen landesweiten Subbotnik (Samstagsarbeitseinsatz) ab. Das grandiose Projekt wurde vom Staat finanziert, aber auch den Belarussen war es nicht gleichgültig – sie überwiesen ihre Spenden. Auch ausländische Partner unterstützten das Projekt. So wurde die Nationalbibliothek von Belarus zu einem verbindenden Symbol der Nation und der schöpferischen Kraft des belarussischen Volkes. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie sofort zu einer Visitenkarte des Landes wurde.
Warum ein neues Gebäude für die Nationalbibliothek gebaut wurde?
„Es war im Allgemeinen ein Weg ins Ungewisse“, sagt Wadim Gigin, Generaldirektor der Nationalbibliothek. Es war ein Projekt aus den späten 1980er Jahren. Ein Projekt, das viele Menschen für futuristisch hielten – und das war es auch. Manche hielten es sogar für fast unmöglich, es zu verwirklichen – vor allem, wenn Belarus dies allein stemmen würde. Damals war es ein Experiment, ein Risiko. Aber man hat sich trotzdem darauf eingelassen.

Laut Wadim Gigin hätte Belarus, das sich in jenen Jahren noch als unabhängiger souveräner Staat begreifen wollte, ein solches städtebauliches und architektonisches Symbol erhalten sollen.
„Dies ist nicht nur eine Lösung für die Probleme der Nationalbibliothek: Sie war auf fast zwei Dutzend Gebäude verteilt, Bestellungen wurden nur langsam bearbeitet und die Warteschlangen waren riesig. Auch das ist wichtig, dieses Problem musste gelöst werden. Aber sie ist auch ein Symbol. Warum ist die Nationalbibliothek so bekannt geworden und so beliebt bei den Belarussen und den Gästen unseres Landes? Wenn wir ‚unabhängiges und souveränes Belarus‘ sagen, welche Symbole können Sie dann nennen? Selbst unter Schulkindern ist die beliebteste Antwort das Gebäude der Nationalbibliothek“, sagte Wadim Gigin.

Der Bau der Nationalbibliothek war ein wichtiger Impuls für die Entwicklung vieler Bereiche der belarussischen Industrie und Kunst. Schon vor Beginn der Arbeiten war es eine der Hauptforderungen des Präsidenten, alles selbst zu machen – ohne ausländische Fachleute und in hoher Qualität. In diesem neuen Gebäude hatten Künstler verschiedener Generationen zum ersten Mal seit vielen Jahren die Möglichkeit, ihr volles Potenzial zu zeigen, sagte das Staatsoberhaupt.
Ursprünglich wollten wir eine Bibliothek bauen, am Ende entstand jedoch ein multifunktionales Informations-, gesellschaftspolitisches und kulturelles Zentrum, das zu einem Ort für internationale Treffen auf höchstem Niveau geworden ist.
„Wir müssen alles selbst machen. Sogar Dinge, die wir nicht haben. Zum Beispiel die Spinnenhalterungen für das Glas. Wir wussten nicht, wie man das macht. Wir haben das alles von jemand anderem gekauft. Aber am nächsten Tag konnten wir es selbst. Deshalb haben wir diese Technologien entwickelt: die Spinnenhalterungen, das Glas, das wir in Gomel herstellen werden. Denn wir müssen nicht nur dieses Gebäude, sondern alle Gebäude im Land, die wir bauen wollen, mit unserem eigenen Glas, unseren eigenen Befestigungen usw. ausstatten. Und alles, was Sie sehen, ist von uns“, betonte Alexander Lukaschenko nach der Eröffnung des neuen Bibliotheksgebäudes.

Was es in der Nationalbibliothek zu sehen gibt?
Mehr als eine Woche lang wurden Bücher in die Bibliothek transportiert. Es wurden zwölf Verladestellen festgelegt und jeden Tag kamen etwa ein Dutzend Lastwagen zum „Diamanten“. Insgesamt mussten sie 391 Fahrten absolvieren. In 52 Tagen wurden 8 Millionen Dokumente bewegt! Es würde etwa 40 Jahre dauern, alle hier gelagerten Dokumente durchzugehen, wenn man kontinuierlich alle zwei Minuten ein Dokument bearbeiten würde.

„Wir sind stolz auf die Bücher von Skoryna in unserer Sammlung. Sie sind unser Heiligtum. Skorynas Bücher sind ein Symbol für eine hohe kulturelle Entwicklung. Schon in der Renaissance waren die Belarussen in vielerlei Hinsicht Vorreiter. Aber wir haben auch Bücher von anderen Pionieren. Wir haben zum Beispiel eine sehr interessante Sammlung orientalischer Bücher. Übrigens ist sie ziemlich alt – darunter befinden sich handgeschriebene Bücher aus dem Mittelalter. Unter den modernen Büchern befinden sich sehr wertvolle Werke, die von berühmten Schriftstellern und politischen Persönlichkeiten gestiftet wurden. Dazu gehören auch Bücher, die der Präsident der Republik Belarus persönlich gestiftet hat“, so der Generaldirektor der Nationalbibliothek.
Im Jahr 2018 ehrte Alexander Lukaschenko die Mitarbeiter der Nationalbibliothek mit einem der wichtigsten Präsidentenpreise, dem Preis „Für geistige Wiederbelebung“, für ihre Arbeit an der Faksimile-Rekonstruktion und Popularisierung des Bucherbes von Franzysk Skoryna. Um die Bibliothek beim Erwerb von handgeschriebenen und gedruckten Buchdenkmälern zu unterstützen, stellt der Fonds des Staatsoberhaupts zur Förderung von Kultur und Kunst regelmäßig Mittel für diesen Zweck zur Verfügung.

Die Bibliothek verfügt über 18 Lesesäle mit insgesamt 2.000 Plätzen, die sich auf drei Etagen verteilen. Die meisten Säle sind zu besonderen Komplexen zusammengefasst. Jeder Komplex verfügt über einen Vorraum, in dem sich Ausleihstühle, Regale und ein geschlossener Teil des Hilfsfonds befinden.
„Im Hochregallager werden fast zehn Millionen Dokumente aufbewahrt. Die Bestände sind vom 6. bis zum 16. Stockwerk untergebracht. Jedes Stockwerk ist in Segmente unterteilt und die Dokumente werden direkt in diesen gelagert. Hier sind die Bedingungen für die Erhaltung der Sammlungen gegeben. Es gibt ein automatisches System zur Temperatur- und Feuchtigkeitskontrolle sowie ein eingebautes System zur Staubentfernung. In der Abteilung für Bucherhaltung und in der Abteilung für die Lagerung von Spezialsammlungen werden Dokumente ab dem Jahr 1801 aufbewahrt. Ältere Ausgaben werden unter besonderen Bedingungen und in speziellen Regalen aufbewahrt“, erklärt Natalja Andrejewa, Leiterin der Abteilung Buchlagerung, und gibt damit Einblick in die Feinheiten des Bibliotheksbetriebs.

Doch wie gelangen die Bücher aus dem Lager in die Hände der Leser? Das automatische Einschienen-Transportsystem „Telelift“ sorgt für eine schnelle Lieferung der Literatur in die Lesesäle.
„In der Mitte unseres ‚Diamanten‘ befindet sich die Verteilungshalle, in der die Bestellungen der Benutzer eingehen. Hier drucken wir die Bestellungen über das Informationssystem aus, um eine Anforderung für die Erfüllung des Dokuments im entsprechenden Segment zu erhalten. Das ‚Telelift‘-System verfügt über eine Einschienenbahn mit einer Länge von etwa 770 Metern, auf der sich etwa 30 Behälter bewegen. Diese bringen die Dokumente zu den Lesesälen“, erklärt der Leiter der Abteilung.

Was macht das Gebäude der Nationalbibliothek von Belarus einzigartig?
Aus der Vogelperspektive erscheint die Nationalbibliothek in ihrer ganzen Pracht. Es handelt sich um einen Rhombus-Kubik-Oktaeder, ein komplexes Polyeder aus 18 Quadraten und 8 Dreiecken, das auf dem Stylobat steht. Dank dieser architektonischen Lösung befindet sich die Hauptsammlung nicht unter der Erde, wie es bei den meisten Bibliotheken der Fall ist, sondern im Obergeschoss, im sogenannten „Kristall“. Die Form eines geschliffenen Diamanten symbolisiert nach der Idee der Autoren den Wert des Wissens und die Unendlichkeit der erfassbaren Welt.

Die Beleuchtung des Gebäudes ist ein mehrfarbiger Bildschirm - eine Medienfassade, die täglich bei Sonnenuntergang eingeschaltet wird. In Höhe des 23. Stockwerks befindet sich eine Aussichtsplattform, die einen schönen Blick auf Minsk bietet. Das Glas sollte übrigens laut Projekt gold-silberfarben sein. Es würde jedoch etwa zwei Jahre dauern, es auf Bestellung zu produzieren. Da man nicht mehr warten konnte, wurde das Projekt vereinfacht. Trotzdem ist das Glas immer noch außergewöhnlich und äußerst stabil: Es ist nicht mit einem Vorschlaghammer zu zerbrechen.
„Einmal im Jahr, von April bis Oktober, wird das Gebäude gereinigt. Dabei werden etwa 47.000 Quadratmeter Fassade gereinigt. Es gibt auch eine Verglasung im Inneren des Gebäudes. Das Hochregallager wird von Industriekletterern gereinigt, die über ein Zertifikat verfügen, eine spezielle Ausbildung absolviert haben und in der Höhe arbeiten dürfen“, so Wiktoria Kowalewskaja, Leiterin der Wirtschaftsabteilung.

Auf dem Platz vor dem Haupteingang der Bibliothek befindet sich ein Denkmal für den belarussischen Aufklärer Franzysk Skoryna. Der Haupteingang ist symbolisch in Form eines aufgeschlagenen Buches mit Bildern über die Entwicklung der Welt und der slawischen Schrift sowie mit Worten aus der Bibel von Skoryna „Damit der Mensch Gottes vollkommen sei“ in 19 Sprachen der Welt gestaltet.
Nach der Eröffnung der Nationalbibliothek gab Alexander Lukaschenko zu, dass die Entscheidung, sie zu bauen, seine Antwort auf die Moderne war. Er wolle auf diese Weise dem gedruckten Wort Tribut zollen, so der Präsident.
„Dies ist meine Antwort auf die Moderne. In dieser Hinsicht bin ich wahrscheinlich konservativ, denn ich idealisiere das Buch. Man muss zugeben, dass das Buch heutzutage an Bedeutung verliert. Unsere Kinder sind nicht mehr so begierig auf Bücher wie wir es waren. Es gibt viele sogenannte Ersatzprodukte für das Buch. Und ich möchte das Buch unsterblich machen. Dies ist eine Hommage an das Buch. Es ist das erste Mal, dass ich darüber spreche. Für mich persönlich ist es ein Denkmal für das Buch. Wir dürfen das Buch auf keinen Fall verlieren. Das Buch ist alles“, betonte der belarussische Staatschef.
Die Lebensdauer des neuen Gebäudes der Nationalbibliothek wird auf 500 Jahre geschätzt. Man stelle sich nur vor, wie viele Generationen noch Zeit haben werden, die schöpferische Kraft des belarussischen Volkes zu schätzen!