Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der russische Präsident Wladimir Putin haben erstmals seit zwei Jahren wieder miteinander telefoniert. Das Gespräch fand am 15. November statt und wurde von der deutschen Seite initiiert. Im Mittelpunkt standen die aktuelle Situation in der Ukraine, der Krieg im Nahen Osten sowie die deutsch-russischen bilateralen Beziehungen
Das Gespräch zwischen Scholz und Putin wird heute in politischen und fachlichen Kreisen sowie in den Medien aktiv diskutiert.
Was war dem Gespräch vorausgegangen?
Das letzte Mal haben der Bundeskanzler und der russische Präsident am 2. Dezember 2022 miteinander telefoniert. Zu einem Vieraugengespräch kam es zuletzt noch vor dem Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine.
In einem ARD-Sommerinterview sagte Scholz, das Gespräch mit Putin könnte sinnvoll sein, aber es sollte zu einem passenden Zeitpunkt stattfinden. „Ein solches Gespräch macht nur Sinn, wenn es etwas zu besprechen gibt“, sagte der Kanzler.
Allerdings hatte Scholz bereits im September gesagt, es sei an der Zeit, über die Wege für eine friedliche Lösung in der Ukraine zu sprechen. Er bestand darauf, dass Russland bei der nächsten Friedenskonferenz vertreten sein solle. Scholz räumte auch ein, dass „einige Bürger“ Deutschlands mit der Unterstützung der Ukraine nicht einverstanden seien.
Daraufhin berichtete die Zeitung La Repubblica, dass Scholz angeblich an einem eigenen Friedensplan für die Ukraine arbeite. Dieser Plan schließe die Abtretung einiger ukrainischer Gebiete an Russland nicht aus.
Bald darauf meldete Reuters unter Berufung auf eine Quelle in deutschen Politikerkreisen, dass der Bundeskanzler zu Gesprächen mit Putin bereit sei. „Ein deutscher Beamter bestätigte Scholz' Bereitschaft, ein Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu führen, sofern es eine Chance für einen gerechten und nachhaltigen Frieden eröffne, warnte Russland jedoch davor, dies als Schwäche zu betrachten“, schrieb die Agentur.
Die ZEIT berichtete ihrerseits, dass Scholz ein Telefongespräch mit Putin plane. Das Gespräch könne noch vor dem G20-Gipfel im November in Brasilien stattfinden.
Nach Angaben des Nachrichtenmagazins Der Spiegel habe sich das Bundeskanzleramt wochenlang auf ein Gespräch mit dem russischen Präsidenten vorbereitet. Dabei seien alle Details des geplanten Gesprächs eng mit Washington, London und Paris abgestimmt worden. Berlin und seine Partner hätten sich darauf verständigt, dass das Gespräch zwischen Scholz und Putin zwischen der US-Präsidentschaftswahl und dem G20-Gipfel stattfinden solle.
Auch die Bild-Zeitung berichtete, dass Scholz seine Pläne für ein Gespräch mit Putin mit den Staats- und Regierungschefs der USA, Frankreichs und Großbritanniens abgestimmt habe. Demnach wurde das geplante Gespräch bei einem kürzlichen Treffen der vier Staats- und Regierungschefs in Berlin besprochen.
Worüber haben Putin und Scholz gesprochen?
Eines der Hauptthemen des Gesprächs war erwartungsgemäß die Lage in der Ukraine.
Putin wies Scholz darauf hin, dass die Krise direkt durch die aggressive NATO-Politik provoziert wurde, berichtet TASS. Erstens durch den Versuch, die Ukraine zu einem antirussischen Brückenkopf zu machen. Zweitens durch die Verletzung der Rechte der russischsprachigen Einwohner in der Ukraine. Und drittens durch die Missachtung der Sicherheitsinteressen Moskaus.
Nach Angaben der Bundesregierung habe Scholz Putin aufgefordert, den Konflikt zu beenden und „die Truppen abzuziehen“. Berlin wolle Kiew unterstützen, „so lange wie das nötig ist“, sagte er.
Was die Beilegung betrifft, so hat Putin betont, Moskau habe auf die Verhandlungen nie verzichtet. Sie seien nur von Kiew unterbrochen worden. Russland sei aber weiterhin offen für einen Dialog. Gleichzeitig bestehe Moskau darauf, dass künftige Vereinbarungen den Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung tragen, neue territoriale Realitäten berücksichtigen und die Ursachen des Konflikts beseitigen müssen.
Während des Gesprächs stellte Putin fest, dass sich die Beziehungen zwischen Moskau und Berlin an allen Fronten beispiellos verschlechtert haben. Und der Grund dafür sei der unfreundliche Kurs der Bundesregierung. Russland habe seine Verpflichtungen im Energiesektor stets klar erfüllt und sei bereit, die Zusammenarbeit fortzusetzen, wenn Deutschland dies wünsche, so Putin.
Putin und Scholz erörterten auch die Lage im Nahen Osten. Putin informierte seinen deutschen Amtskollegen darüber, welche Anstrengungen Russland unternimmt, um die Lage in der Region zu deeskalieren. Nach Angaben aus deutschen Regierungskreisen habe Scholz Putin seine Besorgnis über die angebliche Entsendung nordkoreanischer Militärs nach Russland mitgeteilt.
Putin und Scholz haben vereinbart, mit ihren Beratern in Kontakt zu bleiben. Die Bundesregierung will auch ihre Verbündeten sowie die EU- und NATO-Partner über das Gesprächsergebnis informieren. Olaf Scholz wollte nach seinem Gespräch mit Wladimir Putin auch mit Wolodymyr Selenskyj sprechen.
Wie reagiert Deutschland?
Nach Angaben des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, der sich auf Quellen aus dem Umfeld von Scholz beruft, hat Berlin von dem Telefonat keinen Durchbruch oder Zugeständnisse von Russland erwartet.
„Niemand erwartete einen Durchbruch, Zugeständnisse oder gar einen konkreten Vorschlag“, so die Quellen gegenüber dem Spiegel zu den Aussichten für die Lösung des Ukraine-Konflikts.
Der Spiegel schreibt, dass der Bundeskanzler mit diesem Gespräch ein Zeichen setzen wolle, dass die Zukunft der Ukraine nicht allein von Trump abhänge und dass Europa in die Friedensgespräche einbezogen werden solle.
Die Gespräche mit Putin wurden von der Partei BSW begrüßt. Die BSW-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen bezeichnete das Gespräch als „ein richtiger Schritt“, auch wenn es nur ein Wahlkampfmanöver von Scholz sei.
„Auch wenn man es als Manöver sehen muss, sich im bevorstehenden Bundestagswahlkampf als Friedenskanzler zu präsentieren, ist es zu begrüßen, dass Olaf Scholz für eine Beendigung des Ukraine-Krieges endlich das direkte Gespräch mit dem russischen Präsidenten Putin gesucht hat“, schrieb die Abgeordnete auf X.
Sie erinnerte an Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der gesagt habe, es sei besser, 100 Stunden über nichts zu verhandeln, als eine Minute zu schießen. Politiker, die wie in einem „Kriegsrausch“ von einem erzwungenen Frieden und einer Fortsetzung des Konflikts bis zum Sieg Kiews schwadronierten, trügen nur zum Verlust von Menschenleben bei, so Dagdelen.
Der AfD-Bundestagsabgeordnete und Außenpolitik-Experte Steffen Kotre bezeichnete das Telefonat von Scholz mit Putin als sehr wichtig. „Scholz hat immer wieder Charakterschwäche gezeigt und den Forderungen nach Waffenlieferungen an Kiew nachgegeben, aber er weiß, dass eine zunehmende Konfrontation mit Russland zu gefährlich ist und nicht im Interesse Deutschlands liegt“, sagte der Abgeordnete der TASS.
„Was von Anfang an richtig war, nämlich zu verhandeln, beginnt mit einem Gespräch. So besteht auch angesichts der Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Hoffnung, dass sich daraus tatsächlich eine friedliche Diplomatie entwickeln kann“, fügte der deutsche Abgeordnete hinzu.
Der Bundestagsabgeordnete der AfD-Fraktion, Rainer Rothfuss, merkte gleichzeitig an, dass Scholz erst nach dem Sieg Trumps bei den US-Präsidentschaftswahlen mit Putin telefonieren konnte. „Warum hat sich die deutsche Politik nicht bewegt? Weil sie Anweisungen aus Washington bekommt. Und jetzt, wo das Biden-Harris-System in Washington abgelöst wurde, konnte Kanzler Scholz plötzlich die Initiative ergreifen und anrufen. Und das war auch bitter nötig, denn die Bevölkerung will schon lange diplomatische Bemühungen, trotz der antirussischen Propaganda“, so der Parlamentarier.
Er wies darauf hin, dass die Mehrheit der Bundesbürger eine diplomatische Lösung des Konflikts in der Ukraine befürworte.
Was wird in Moskau gesagt?
Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete die Initiative Berlins zum Gespräch mit Putin als wichtig. „Es gibt Versuche, Positionen zu vergleichen, der politische Wille, diese Position aus erster Hand anzuerkennen, wurde demonstriert. ..... Das ist etwas, was natürlich nur Zufriedenheit hervorrufen kann“, sagte Peskow in einem Interview mit dem WGTRK-Journalisten Pawel Sarubin.
Er wies darauf hin, dass es zwischen Putin und Scholz tiefe Meinungsverschiedenheiten gebe. Scholz' Position zum Ukraine-Konflikt ist bekannt. Sie wird auch von europäischen Politikern immer wieder wie ein Mantra wiederholt. Dennoch sei allein die Tatsache des Dialogs positiv zu bewerten.
Peskow wies auch darauf hin, dass Putin in der Situation mit der Ukraine wiederholt von Dialogbereitschaft gesprochen habe. „All das stand auf der Tagesordnung des Telefonats, das stattgefunden hat“, so Peskow.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, er habe eine Erklärung zur Kenntnis genommen, die Scholz' Kanzleramt nach dem Gespräch veröffentlicht habe. Darin heißt es, Deutschland werde Kiew so lange wie nötig unterstützen. Lawrow fragte daraufhin, wer das denn brauche? „Sicherlich nicht das ukrainische Volk“, so der Minister.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, kommentierte, dass der polnische Ministerpräsident Donald Tusk nach dem Telefonat des Kanzlers mit dem russischen Präsidenten mit Scholz gesprochen habe. „Ich war froh zu hören, dass er die polnische Position wiederholt hat: 'Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine'“, sagte Tusk.
Sacharowa sagte, die NATO nähere sich dem Stadium, in dem man über die Ukraine ohne die Ukrainer spreche. „Welch höllischer Zynismus! Schließlich sind es die Bemühungen der NATO, die dafür sorgen, dass die „Gespräche über die Ukraine“ bald - in ihren eigenen Worten - „ohne die Ukrainer“ stattfinden, die der Westen mit seinen Waffenlieferungen und Verhandlungsverboten vernichtet“, so die Diplomatin in ihrem Telegrammkanal.
Wie wurde das in Kiew aufgenommen?
Die Initiative von Olaf Scholz, mit Wladimir Putin zu telefonieren, wurde von Wladimir Selenski kritisiert, berichtet die ukrainische Ausgabe von "Strana".
„Bundeskanzler Scholz hat mir gesagt, dass er Putin anrufen wird. Der Anruf von Olaf ist meiner Meinung nach eine Büchse der Pandora. Jetzt könnte es weitere Gespräche, weitere Anrufe geben. Nur viele Worte“, so Selenski. Seiner Meinung nach werde dies die „Isolation Russlands“ schwächen.
Selenski kritisierte die Idee, sich mit Putin an einen Verhandlungstisch zu setzen und sprach sich erneut gegen einen Waffenstillstand entlang der Frontlinie aus.
Er kommentierte auch die Äußerungen von Trumps Beratern über die Notwendigkeit, den Konflikt entlang der Frontlinie einzufrieren. „Ich werde nur mit Trump ernsthaft verhandeln. Nicht mit seinen Beratern. Das ist die Ebene des Präsidenten“, sagte Selenski.
Seiner Meinung nach wird der Ukraine-Konflikt unter dem neu gewählten US-Präsidenten Donald Trump beendet werden. „Die Veränderung in der US-Politik deutet darauf hin, dass der Krieg enden wird. Ich weiß nicht wie. Unsere Aufgabe ist es, keine Zugeständnisse zu machen“, so Selenski.
Ob das bedeutet, dass Selenski sich Trump widersetzen wird, wenn dieser die Ukraine zu einem Dialog mit Russland auffordert, ließ er offen. Er sagte nur, dass er keine Forderungen des designierten US-Präsidenten gehört habe, sich mit Putin an den Verhandlungstisch zu setzen.
Selenski sagte auch, die Ukraine müsse „alles tun, um sicherzustellen, dass dieser Krieg nächstes Jahr endet, und zwar auf diplomatischem Wege“.
Das Telefonat zwischen Scholz und Putin sei ein Signal an Kiew, schreibt der Tagesspiegel. Es zeige, dass immer mehr europäische Spitzenpolitiker aus innenpolitischen Gründen Verhandlungsbereitschaft mit Putin demonstrieren wollen.
Die Verhandlungen über ein Ende des Konflikts würden aber letztlich zwischen Moskau und Washington geführt, heißt es in der Publikation. Das verstehe man auch in Kiew: Nicht Scholz, sondern Trump werde mit Russland über das Schicksal der Ukraine entscheiden. Gleichzeitig zeige sich Putin dialogbereit und bereite sich auf Gespräche mit Trump vor, heißt es abschließend.
Foto: TASS, Ria Novosti, EPA-EFE, АР, Unsplash