Projekte
Staatsorgane
flag Donnerstag, 20 November 2025
Alle Nachrichten
Alle Nachrichten
Gesellschaft
20 November 2025, 15:34

Belarus-EU: Ist ein Dialog möglich? Was geschieht in 10 Jahren? 

Im Westen wird in Bezug auf die Beziehungen zu Belarus ein Paradigmenkampf geführt. Für einige Staaten ist Belarus ein Puffer, der den Westen und den Osten trennt, für andere - eine Brücke, die den Westen mit dem Nicht-Westen verbindet. Einige fordern Investitionen in Streit und Konfrontation, andere bestehen auf pragmatischen und vorteilhaften Beziehungen. Jetzt, wo Minsk und Washington ihre Kontakte intensiviert haben, rückt der oben erwähnte Kampf in den Vordergrund. Und wie dieser Kampf endet, wird in vielerlei Hinsicht die weitere Entwicklung der europäischen Region bestimmen.

Wir haben viel über die belarussisch-amerikanischen Beziehungen geschrieben. Es ist nun an der Zeit, darüber nachzudenken, ob Belarus und die EU ein gegenseitiges Interesse haben und ob es sich überhaupt lohnt, nach Berührungspunkten zu suchen? 

Warum ist uns das nicht egal?

Zuerst müssen wir uns fragen: Wie sehen wir Europa in zehn Jahren?

Wenn alles bei Altem bleibt - militärische und politische Konfrontation, wirtschaftliche Stagnation und technologischer Rückgang, Kurs auf totale Militarisierung und Radikalisierung politischer Kräfte – erscheint das Zukunftsszenario für unseren Kontinent in düsteren Farben. Wenn man keinen Versuch macht, etwas daran zu ändern, werden die Europäer auch im Jahr 2035 dieselbe Probleme haben, nur in einem viel größeren Ausmaß.

Die heutige Ukraine wird in der nächsten Dekade zu einer Grauzone und einem Brutnest für Banditen aller Couleur - von radikalen Gruppierungen bis hin zu Waffen-, Drogen- und Menschenhändlern. Der Zaun an der Grenze zwischen EU und Belarus wird verschwinden, stattdessen wird hier die potentielle Frontlinie verlaufen. An ihren beiden Seiten werden Militärtruppen zusammengezogen. Während die ganze Welt wirtschaftliche, technologische und digitale Fortschritte machen wird, wird Europa in zehn Jahren zu einer Peripherie werden. In den westeuropäischen Medien wird nicht mehr über die Erfolge in der Wissenschaft und Medizin berichtet, sondern über neue Rüstungsausgaben, über den Kampf gegen die ausufernde Kriminalität, über die Notwendigkeit, die Gürtel enger zu schnallen. Was will man damit erreichen? Einen weiteren Rückgang?
Natürlich ist das nur ein imaginäres Zukunftsszenario. Aber dass es heute allen Grund gibt, ein solches Szenario zu skizzieren, ist an sich schon ein alarmierendes Signal. Deshalb ruft Minsk die EU so hartnäckig auf, sich für eine Entschärfung zu entscheiden, nicht für eine Eskalation. 

Belarus hat schon am Vorabend dieses turbulenten Jahrzehnts versucht, die Europäer zu warnen. Im Jahr 2019 fand die internationale Konferenz zum Thema „Europäische Sicherheit: Weg vom Abgrund“ statt. Damals warnte Präsident Alexander Lukaschenko alle Staaten: „Die strategische Rivalität der Großmächte wächst, die gegenseitige Kontrolle im militär-politischen Bereich fällt auseinander, Handelskriege und Sanktionskonflikte nehmen zu, der Kampf um Energie und Rohstoffe wird verschärft.“

„Das Misstrauen und die Konfrontation zwischen Ost und West haben den Höhepunkt erreicht“, sagte der Präsident. „Russland und die NATO können zum Beispiel innerhalb von wenigen Minuten den Weg von einem unbeabsichtigten lokalen Konflikt zu einem Atomkrieg gehen.“

Viele dachten damals, dass Minsk Angst vor etwas hatte, was niemals eintreten würde. „Von welchem Krieg im modernen Europa redet ihr?“ 

Und was sehen wir heute? Ein groß angelegter Krieg findet auf dem Schlachtfeld statt, aber auch auf dem politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen und Informationsfeld. Und Belarus befindet sich - wie es historisch prädeterminiert ist - im Epizentrum des Geschehens. 

Wir können uns leider nicht davon distanzieren, uns mit Zäunen abgrenzen und so tun, als wäre es uns egal. Alles, was wir können, ist, Europa immer wieder zu ermutigen, es sich anders zu überlegen und zum Dialog zurückzukehren, gemeinsam in unserem Großhaus Europa Ordnung zu schaffen. 

Ist Belarus eine Bedrohung für den Westen?

Für den liberalen Westen ist diese Frage bereits zu einer Behauptung geworden. Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass es in Europa heterogene Gruppen gibt. Es gibt sowohl radikale als auch moderate Strömungen, die unterschiedliche Ansätze in Bezug auf Belarus fördern. Das mündet in einen Paradigmenkampf, von dem oben geschrieben wurde. 

Um zu verstehen, wie dieser Kampf die Politik des Westens und insbesondere der europäischen Eliten bestimmt und ob man in Zukunft einen pragmatischen und gleichberechtigten Dialog mit diesen Eliten aufbauen kann, lohnt es sich, verschiedene Meinungen zu berücksichtigen - sowohl offen konfrontative als auch moderate. 

Fangen wir mit den offenen Kriegstreibern an. In der vergangenen Woche veröffentlichte das Atlantic Council einen umfangreichen Bericht über Belarus. De facto war das eine Sammlung von üblichen Narrativen über unser Land, also nichts Neues. Die veröffentlichten Schlussfolgerungen konnte man hunderte Male hören – in Reden und Statements westlicher Politiker und in den „abhängigen“ Mainstream-Medien. Selbst bei Definitionen. Die Autoren des Berichts nennen Belarus „Satellit“, „militärischer Vorposten“, „Sprungbrett für Aggression“, „unzuverlässiger Verbündeter“.

Und dennoch gibt der Bericht des Atlantic Council Anlass zum Nachdenken. Vor allem weil er sich nicht an einen gewöhnlichen Leser richtet, sondern an die politische Führung der westlichen Länder, die der Autor beharrlich zu überzeugen sucht, auf Minsk noch mehr Druck auszuüben, anstatt mit ihm in einen Dialog zu treten. Der Bericht enthält „strategische Empfehlungen für die USA und ihre Verbündeten“: Darin wird empfohlen, Belarus als Bedrohung für NATO und die EU zu betrachten, mit mehr Sanktionen zu belegen und in die „demokratische Infrastruktur von Belarus“ zu investieren…

„Belarus bedroht die NATO-Flanke, unterstützt die Kreml-Aggression und dient als Beispiel für eine autoritäre Konsolidierung“, heißt es im Bericht.
Haben Sie es bemerkt? Noch gestern haben die Anhänger des radikalen Ansatzes selbstbewusst den Ton der westlichen Politik angegeben, und heute müssen sie Berichte schreiben, um die politischen Eliten davon zu überzeugen, den Konfrontationskurs nicht aufzugeben. Vielleicht ist dies die einzige Neuheit, die der Bericht des Atlantic Council enthält. 

„Das Fenster für Aktionen wird immer enger. Eine konsequente westliche Strategie, die Druck und Vorbereitung kombiniert, kann die Ereignisse immer noch umkehren“, fasst der Autor hoffnungsvoll zusammen.

Und die aktuellen Abläufe sehen so aus: Realismus und Pragmatismus werden im Westen zum Trend. Die militante Ideologie hat in den letzten Jahren zum größten Teil nur Verluste verursacht. Das gilt insbesondere für Europa. Das Vertrauen der Gesellschaft sinkt, die Unzufriedenheit wächst und mit ihr der Druck auf die Staatsführung. Deshalb sind heute rechtsextreme politische Kräfte so populär – sie plädieren für einen pragmatischen Ansatz.

Und die Pragmatik besteht nicht darin, aus Belarus ein Feindbild zu machen, absurde Definitionen zu entwickeln wie „Bedrohung für die NATO“, sondern darin, gegenseitig vorteilhafte Beziehungen aufzubauen. Die Befürworter dieses Ansatzes fordern die westlichen Eliten auf, die Strategie gegenüber Minsk an die politischen Realitäten und die Situation in Europa anzupassen.

Und wenn man aus einem anderen Blickwinkel schaut?

Im Gegensatz zur Position des Atlantic Council werden wir den pragmatischen Ansatz des Mitarbeiters des American Quincy Institute, Mark Episkopos, als Beispiel anführen.

„Selten gelingt es Experten und Analysten für Außenpolitik, ein so eindrucksvolles Beispiel für ein absolutes Scheitern zu sehen wie den Ansatz des Westens gegenüber Belarus seit 2020“, schreibt Episkopos in einer seiner jüngsten Arbeiten. „Es gibt keine einzige Option, die darauf hindeuten würde, dass irgendetwas, was in Bezug auf Minsk unternommen wurde, funktioniert hat.“

Nach Ansicht des Analysten lehnt die Regierung von Donald Trump den gescheiterten Ansatz gegenüber Belarus ab und strebt danach, in stabile, konfliktfreie Beziehungen zu investieren. Episkopos ist der Ansicht, dass dies der einzig richtige Weg ist, der für alle Seiten von Vorteil sein wird.

„Der beste und einzig wirksame Weg zur Lösung der aktuellen Probleme ist ein ständiger Dialog mit Belarus und kein Druck mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen, oder das Bestreben, Minsk zu bestrafen, bis es die Beziehungen zu Moskau abbricht. Diese Strategien wurden in den letzten fünf Jahren erprobt und haben sich als äußerst kontraproduktiv erwiesen“, schließt der Autor.

Dass in der Situation mit Belarus selbst „maximaler Druck“ nicht funktioniert habe, erklärte Ende September ein EU-Diplomat gegenüber der Zeitung The Guardian. Gleichzeitig räumte er ein, dass man in Brüssel noch nicht verstehe, was an die Stelle der derzeitigen Politik treten solle.

„Europäische diplomatische Quellen berichteten, dass in Brüssel vorläufige Diskussionen darüber geführt werden, ob die Politik der EU zur Isolierung von Belarus weiterhin wirksam ist“, teilte The Guardian mit.

Der slowakische Politologe und ehemalige Diplomat Balázs Jarábik versuchte, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob eine neue Entspannung in den Beziehungen zwischen Belarus und der Europäischen Union möglich ist. In seinem Artikel, der vom Analysezentrum Carnegie Endowment for International Peace veröffentlicht wurde, stellt er fest, dass Brüssel sich selbst „in eine starre Rahmenstruktur gezwängt“ habe, indem es den Dialog mit der offiziellen Regierung in Minsk abgebrochen habe und weiterhin Kontakte zur sogenannten Opposition unterhalte. „Aus bürokratischer Sicht ist dieser Ansatz für Brüssel verständlich und bequem: Die Beamten können behaupten, dass ihre Politik den Interessen der belarussischen Gesellschaft dient”, schreibt der Politologe. Viele Belarussen seien jedoch „ganz anderer Meinung”, betont Jarábik.

In Bezug auf die Außenpolitik von Belarus hob Jarábik das Bestreben von Minsk hervor, ausgewogene Beziehungen aufzubauen und den Frieden in der Region zu erhalten. „Das strategische Ziel von Lukaschenko bleibt unverändert – eine direkte Einbeziehung von Belarus in den Krieg zu verhindern“, betont der Experte. Darüber hinaus ist der Politologe der Ansicht, dass Minsk daran interessiert ist, begrenzte Kontakte zum Westen zu pflegen. Ein Stolperstein dabei ist jedoch die feindselige Politik der Nachbarländer von Belarus – Polen und Litauen – sowie die träge Politik der EU gegenüber Minsk. 

Der Politologe ist jedoch der Ansicht, dass eine Zusammenarbeit zwischen Minsk und Brüssel in bestimmten Bereichen – beispielsweise im regionalen Transitverkehr oder im Grenzschutz – nicht nur möglich, sondern für beide Seiten auch immer wichtiger wird. Die Europäische Union muss jedoch verstehen, dass Belarus bereit ist, Beziehungen auf der Grundlage seiner eigenen Interessen aufzubauen. Wenn die EU weiterhin geopolitische Überlegungen ignoriert, riskiert sie, jeglichen Einfluss in einer Region zu verlieren, in der laut dem Politologen nicht so sehr Emotionen als vielmehr kühle Kalkulation den Ausgang der Ereignisse bestimmen.

„Ist es für die EU an der Zeit, ihren Ansatz angesichts der Lockerung der US-Sanktionen gegen Belarus zu überdenken?“ So lautet die Überschrift eines Artikels, der letzte Woche vom britischen Analysezentrum Chatham House veröffentlicht wurde. 

Bemerkenswert ist, dass der größte Teil des Artikels der Kritik an Belarus gewidmet ist, der Darstellung, inwieweit wir den demokratischen Idealen des Westens nicht entsprechen, welchen schlechten Einfluss Russland auf uns ausübt usw. Im Gegensatz zu dem einseitigen Bericht des Atlantic Council versucht der Analyst von Chatham House, die Situation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten – nicht nur durch die Brille einer kriegerischen Ideologie, sondern auch aus praktischem Interesse. Und sobald dies geschieht, kommen unerwartete Schlussfolgerungen zum Vorschein. 

„Die Weigerung der EU, uneingeschränkt mit Minsk zusammenzuarbeiten, könnte sich als strategische Kurzsichtigkeit erweisen“, heißt es in dem Artikel. 

Diese Zusammenarbeit könnte zumindest im kulturellen und humanitären Bereich stattfinden, im besten Fall auch in Sicherheitsfragen. „Eine aktivere Politik könnte dazu beitragen, Sicherheitsrisiken zu verringern“, schreibt der Autor und weist darauf hin, dass dieses Thema angesichts der gemeinsamen Grenze zwischen der EU und Belarus besonders aktuell ist.

„Wie die USA sollte auch die EU ihre Politik gegenüber Belarus überdenken, auch wenn ihre Motive andere sein mögen“, fährt der Autor fort. „Für die EU geht es darum, einen langfristigen Ansatz gegenüber Belarus zu verfolgen, der die Chancen erhöht, dass an ihrer Ostgrenze in Zukunft ein stabiler und verantwortungsbewusster Partner entsteht, was durch eine vollständige Isolation nicht erreicht werden kann.“ 

Hier ist ein weiterer Bericht – diesmal vom Internationalen Institut für Nahost- und Balkanstudien (IFIMES, Slowenien). In diesem Jahr hat IFIMES bereits mehrere Übersichten über die politische und wirtschaftliche Lage in Belarus veröffentlicht und dabei auf das Bestreben von Minsk hingewiesen, die Beziehungen zwischen Ost und West auszugleichen und Beziehungen innerhalb der eurasischen Region aufzubauen, unter anderem im Rahmen der SOZ und entlang der Achse Minsk-Peking.

In seinem letzten Bericht, der Ende Oktober veröffentlicht wurde, bezeichnet das slowenische Institut unser Land als eurasisches Tor und geopolitischen Puffer. 

„Belarus fungiert als Brücke zwischen Eurasien und der Europäischen Union und ist das einzige Mitglied der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), das an die EU grenzt. Als wichtiges Logistik- und Industriezentrum mit einer stabilen politischen Struktur trägt Belarus zur effektiven Integration der eurasischen Volkswirtschaften in die europäischen Märkte bei. Seine geografische Lage macht es zu einem wichtigen Knotenpunkt für Handelsströme, Transportkorridore und Energierouten, was seine Bedeutung sowohl in regionalen als auch in globalen Angelegenheiten verstärkt“, schreibt IFIMES.

Belarus ist jedoch nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht interessant. „Die Stabilität des Landes und seine gut entwickelte Infrastruktur gewährleisten nicht nur einen reibungslosen Waren- und Kapitalverkehr, sondern bestimmen auch seine Rolle als Pufferzone, die zur Sicherheit und zum Kräftegleichgewicht zwischen den wichtigsten geopolitischen Blöcken, darunter Russland, China und die Europäische Union, beiträgt“, heißt es in dem Bericht. 

IFIMES stellt fest, dass die strategische Bedeutung von Belarus auch jenseits des Ozeans – in den USA – erkannt wird. Darauf deuten die jüngsten Kontakte zwischen Minsk und Washington hin, die das Interesse von Amerikanern an einer Stärkung der bilateralen Beziehungen und der regionalen Zusammenarbeit mit Belarus bekundet haben.

„Diese diplomatischen Initiativen bestätigen erneut die strategische Bedeutung von Belarus als logistischer und politischer Knotenpunkt in der Region und positionieren das Land als unverzichtbaren Partner bei der Verbindung von Europa und Asien und bei der Unterstützung von Verkehrs- und Infrastrukturprojekten, einschließlich der vielversprechenden Nord-Süd-Korridore“, stellt IFIMES fest.

Der Ansatz des slowenischen Instituts ist insofern bemerkenswert, als er sich weniger auf die Trennung (geopolitischer Puffer) als vielmehr auf die wirtschaftliche Integration und Verbindung (eurasisches Tor) konzentriert. Betrachtet man die Situation jedoch nicht aus der Perspektive der Konfrontation, sondern aus der Perspektive der Aussichten, so erscheint Belarus tatsächlich nicht als Puffer, sondern als Brücke, die die beiden Ufer des großen Eurasien verbindet. Dabei hat unser Land alles, um diese Brücke für viele Jahre zu bleiben – die geografische Lage, die mentale Nähe sowohl zu unseren westlichen Nachbarn als auch zu den Russen und gleichzeitig ein tiefes Verständnis für China, mit dem Belarus enge Beziehungen unterhält und von dem es seit drei Jahrzehnten viel lernt. Hinzu kommt der Ruf eines verantwortungsbewussten Partners, der die von ihm eingegangenen Vereinbarungen strikt einhält. Diese Eigenschaft fehlt leider vielen sogenannten zivilisierten Ländern.

Stabilisator Europas – eine Rolle, die wir uns nicht ausgesucht haben

Es ist offensichtlich, dass im Westen, einschließlich der EU, Belarus und seine Rolle in der Region ganz unterschiedlich gesehen werden. Und in naher Zukunft werden diese Sichtweisen miteinander konkurrieren. Aber können die Befürworter einer Konfrontation erneut die Oberhand gewinnen? 

Für den Durchschnittsbürger, der seine Informationen aus den liberalen Medien bezieht, ist der Ansatz des Atlantic Council ein Kanon. Aber auf der Ebene der politischen Eliten gibt es kaum Dilettanten, die die Manipulation von Fakten und die Verzerrung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen nicht bemerken würden.

Nehmen wir zum Beispiel die Aussage des Atlantic Council, dass eine Zusammenarbeit mit Belarus unmöglich ist, da Minsk in seiner Politik ausschließlich auf den Osten ausgerichtet ist. Oder dass die Fähigkeit von Belarus, durch eine multivektoriellen Außenpolitik zwischen Ost und West zu balancieren, nichts weiter als eine Illusion ist. Nun, wenn es Illusionen gibt, dann ist es an der Zeit, sie zu zerstreuen. 

Der Westen hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Belarus, wie übrigens auch die Ukraine, als Pufferstaaten betrachtet. Solche Länder sollen im Grunde genommen nicht nur die Konfliktparteien trennen, sondern auch eine stabilisierende Rolle spielen und das Gleichgewicht in der Region wahren. Es scheint, dass es im Interesse aller Seiten liegt, dieses Gleichgewicht und gleichzeitig die Neutralität der Länder zu erhalten, die als Schutz für den gesamten Kontinent dienen. Aber das ist nur aus Sicht des gesunden Menschenverstands so. Wenn man jedoch von wahnsinnigen Ambitionen und dem Wunsch ausgeht, den Rivalen zu dominieren, dann erhalten wir das, was derzeit geschieht.

Das Problem ist, dass der Westen nie wollte, dass Belarus oder die Ukraine unabhängig werden. Unsere Länder sollten als Puffer dienen, aber gleichzeitig im Einflussbereich westlicher Mächte bleiben und Russland gegenüber feindlich eingestellt sein. Im Falle von Gegenmaßnahmen seitens Moskaus wären Belarus und die Ukraine einfach nur Kanonenfutter in einem Stellvertreterkrieg geworden. Die Ukraine wurde genau das, als die Provokationen gegenüber Russland zu einer existenziellen Bedrohung wurden.

Noch vor Beginn des Ukraine-Konflikts griff der Westen in die Politik, Wirtschaft, das Militär und die Informationssphäre der Ukraine ein. Dies führte dazu, dass Kiew aufhörte, seine Beziehungen auszubalancieren, und begann, selbst das Boot zu schaukeln und nach Westen zu treiben. Und zwar nicht nur in politischer, sondern auch in militärischer Hinsicht. Die Ukraine beschloss, der NATO  beizutreten, und diese Entscheidung stellte alles auf den Kopf. Die westukrainische Propaganda suggeriert den Ukrainern und der Bevölkerung westlicher Länder bis heute, dass die Ukraine das Recht hat, frei zu handeln. Aber genau das ist eine Illusion. In der heutigen Welt, in der alle Staaten miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, gibt es kein Land, das ohne Einschränkungen handeln könnte. Selbst diejenigen, die den Status einer Supermacht haben. Die Ukraine hingegen war als Pufferstaat stärker eingeschränkt als alle anderen. 
 
Während sich die Ukraine dem Westen annäherte, legte Belarus den Schwerpunkt auf seine Beziehungen zu Russland. Dies hinderte unser Land jedoch nicht daran, seine Beziehungen auszugleichen. Sowohl in Russland als auch im Westen war man sich bewusst, dass dieses Gleichgewicht eine Art stillschweigender Friedensvertrag war. Unser Land hat weder den Westen noch den Osten jemals bedroht. Minsk konnte zwar in wirtschaftlichen und politischen Fragen sowohl mit Russland als auch mit der EU streiten, aber die militärische Neutralität von Belarus blieb eine Konstante und die Priorität des Friedens unerschütterlich.

Dem Westen gefiel diese Situation jedoch nicht, und er begann, unser Land zu destabilisieren. Als dies scheiterte, ließ er einen eisernen Vorhang vor Belarus fallen, schnitt es politisch und wirtschaftlich ab und schuf eine Bedrohung für unseren Staat entlang der gesamten Grenze. Damit nahm er Belarus die Möglichkeit, die Beziehungen zwischen beiden Seiten auszugleichen und den Frieden zu wahren.

Wer hat also in diesem Fall das Kräftegleichgewicht in Europa gestört? Wer ist auf eine Politik der endlosen Konfrontation fixiert? Wer hat das Chaos auf unserem Kontinent provoziert und zieht Europa weiter in den Abgrund? Und wer hat gleichzeitig, obwohl er selbst in einer schwierigen Lage ist, die ganze Zeit versucht, den Frieden in unserer Region wiederherzustellen? Wer hat versucht, die Ukraine aus dem Stellvertreterkrieg herauszuholen – sowohl in den ersten Wochen nach Beginn der Kampfhandlungen als auch jetzt, wo die Ukraine als Staat kurz vor dem Zerfall steht? 

Ein Stabilisator oder eine Art Hüter des Gleichgewichts zu sein, sind Rollen, die wir nicht wollten und nicht gewählt haben. Aber da unser Land an einer geopolitischen Bruchstelle zwischen West und Ost liegt, trägt es eine enorme Verantwortung. Und es ist zum Wohle aller, dass die belarussischen Behörden über genügend politische Erfahrung und Weisheit verfügen, um diese Verantwortung zu tragen.

Ja, Belarus war nie prowestlich eingestellt – selbst in Zeiten kurzzeitiger Entspannung. Unser Land blieb jedoch stets proeuropäisch – selbst in Zeiten, in denen die Konfrontation ihren Höhepunkt erreichte. 
„Belarus ist Europa, es ist dessen geografisches Zentrum. Weder die Polen noch die Litauer oder die Letten können sich mit Stacheldrahtzäunen von uns abschotten. Aber wir brauchen ein neues Europa, das wirklich unabhängig, gutnachbarschaftlich, wirtschaftlich entwickelt, politisch stark, spirituell reich und kulturell vielfältig ist. Und natürlich in allen wichtigen Bereichen der Zusammenarbeit in den eurasischen Raum eingebunden“, erklärte Alexander Lukaschenko im März 2023 in seiner Botschaft an das belarussische Volk und die Nationalversammlung.

Für Belarus bedeutet eine pro-europäische Haltung, zum Wohle unseres gemeinsamen Hauses zu handeln. In diesem Haus muss Platz für alle sein – für die EU-Länder, Russland, die Ukraine, Belarus... Wenn Europa dies akzeptiert, braucht es keine Mauern, rote Linien oder Pufferzonen mehr. Aber wir müssen jetzt handeln, damit wir in zehn Jahren auf den Trümmern einer einst blühenden Region  nicht stehen. Ein friedliches, vereintes Europa hat ein enormes Potenzial, um in einer sich rasch verändernden Welt zu einem neuen Wachstumszentrum zu werden. Wir müssen es nur richtig nutzen. 
Abonnieren Sie uns auf
X
Letzte Nachrichten aus Belarus