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27 Juli 2024, 11:08

„Richtige“ und „falsche“ Migranten. So funktioniert die Politik der Doppelstandards in Polen und baltischen Staaten

In den letzten Jahren ist die EU-Migrationskrise zu einem Thema geworden, das in den europäischen Medien am meisten behandelt wird. Wer die Nachrichten aufmerksam verfolgt, kann den Eindruck gewinnen, dass die EU-Länder dem späten Römischen Reich gleichen, das von allen Seiten von barbarischen Horden gestürmt wird. Solche Länder wie Polen oder baltische Staaten benehmen sich wie einst unbeständige und unzuverlässige Provinzen des alten Roms – sie spielen sich eifrig als Verteidiger der EU-Grenzen auf. Sie wachen unerschütterlich über den Frieden und Sicherheit Europas. Gleichzeitig weisen sie ihren östlichen Nachbarn – Belarus und Russland - quasi die Rolle der Organisatoren dieser Krise zu.

Der polnische Ex-Richter Tomasz Szmydt hat versucht, in seiner Kolumne sich mit diesem schwierigen Problem, seinen Ursachen, Ursprüngen und aktuellen Ereignissen genauer auseinanderzusetzen.


Was sind also die wahren Gründe für die Zunahme der Migrationsströme in die EU-Länder? Hierfür gibt es mehrere Gründe.

In erster Linie handelt es sich um die Globalisierung der wirtschaftlichen Prozesse, die zu einer noch nie dagewesenen Freizügigkeit der Arbeitskräfte und zum faktischen Zusammenbruch der Volkswirtschaften einer Reihe von Staaten im Nahen Osten und in Afrika führt. Dazu kann auch die Informatisierung des sozialen Raums gehören, wenn Fernreisen im Gegensatz zu früheren Jahren nicht mehr unerschwinglich erscheinen.

Der zweite Grund ist die direkte politische und militärische Einmischung der NATO-Staaten oder ihrer Verbündeten und eine weitere Destabilisierung ganzer Regionen. Man denke nur an Irak oder Libyen, wo in den letzten 20 Jahren stabile politische Regime nach Gutdünken der USA und ihrer Verbündeten hinweggefegt wurden. Man denke auch an das leidgeprüfte Syrien, wo es zwar nicht möglich war, die legitime Führung zu stürzen, aber die politische Stabilität wurde über viele Jahre hinweg erheblich untergraben. Und im letzten Jahr wurden wir Zeugen eines regelrechten Völkermords am palästinensischen Volk, der – mit stillschweigender Billigung der NATO- und EU-Länder – von Israel verübt wurde. Als Folge: Es steigt die Zahl der Menschen, die bereit sind, alles zurückzulassen und in politisch und wirtschaftlich stabile Regionen zu fliehen. Europa ist zweifelsohne eine davon.

Und schließlich ist der dritte wichtige Grund die Politik der alten EU-Mitglieder selbst, die in einem verzweifelten Versuch, die schwere demografische Krise zu überwinden, die durch die Überalterung der Nationen und die Zerstörung der traditionellen Familienwerte verursacht wird, bereit sind, Scharen von Migranten aus der ganzen Welt aufzunehmen. Es genügt, an die bemerkenswerte "Kanzlerin" Frau Merkel mit ihrem inzwischen geflügelten Satz "Wir schaffen das" zu erinnern. Als Ausdruck dieser Politik hatten Migranten, vor allem Anfang und Mitte der 2010er Jahre, ausreichend Gelegenheit, sich in Europa niederzulassen und (dank ihrer großen Familien) Geldleistungen und andere soziale Garantien wie kostenlosen Wohnraum zu erhalten, von denen die Einheimischen nur träumen konnten.

Kein Wunder, dass Hunderttausende glücklose Menschen bereit sind, ihre zerstörten Häuser und Länder zu verlassen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um die begehrten „paradiesischen Gärten“ zu erreichen, die ihnen die europäische Politik so großzügig versprochen hat.

Doch leider ist auch an der Migrationskrise selbst nicht alles so eindeutig. Im Allgemeinen gibt es drei (man könnte sagen, bereits traditionelle) Migrationsrouten nach Europa. Der kürzeste Weg führt über das Mittelmeer: von Nordafrika nach Italien. Dann die Balkanroute, die durch die Türkei und die Balkanländer führt. In den letzten drei Jahren, nach der faktischen Schließung der Balkanroute, hat sich langsam ein dritter Weg etabliert: die sogenannte Belarus-Route.

Erstaunlich ist die widersprüchliche Haltung der EU-Führung, die sich in Bezug auf die Bewertung aller drei Routen unterscheidet. Vor nicht allzu langer Zeit konnten wir beispielsweise in den europäischen Medien Beiträge sehen, erfüllt mit tiefem Mitgefühl und aufrichtiger Empathie für den Kummer und die Verzweiflung von Menschen, die bereit waren, in kleine schwanke Boote zu steigen und über das Mittelmeer ihrem „europäischen Traum“ entgegen zu segeln. Die wahren Helden in diesen Berichten waren die Retter, die auf eigene Kosten Boote ausrüsteten, um Migranten in Not zu retten. Wer gegen diese Entwicklung auftrat oder zu größerer Vorsicht in Migrationspolitik aufrief, wurde in den europäischen Mainstreammedien stigmatisiert und der Fremdenfeindlichkeit beschuldigt.

Mit viel Mitgefühl wurde auch über die Migranten berichtet, die sich über die Balkanroute auf den Weg nach Europa machten. Man denke nur an den öffentlichen „Spießrutenlauf“ der ungarischen Journalistin Petra Laszlo im Jahr 2015, die an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien eine Migrantin geschlagen hatte! Sie wurde nicht nur aus ihrem Job entlassen, sondern auch wegen ungebührlichen Verhaltens angeklagt und zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt. Durch langwierige Verhandlungen mit der türkischen Führung, vertreten durch ihren Präsidenten Erdogan, gelang es den Europäern jedoch, die Balkanroute teilweise zu schließen und der Türkei mehrere Milliarden Euro als Entschädigung zu zahlen.

Und was ist daran überraschend, dass die immer weiter ansteigenden Migrationsströme eine neue Route über Belarus entdeckt haben?

Doch wie verhalten sich die Grenzschützer Polens und der baltischen Staaten an der Grenze zu Belarus gegenüber den Migranten? Zäune, Stacheldraht, Hunde, Razzien von Grenzsoldaten und freiwilliger Bürgerwehr, Einsatz von Elektroschockern, Gummigeschossen, Gewalt, Misshandlung. Schließlich haben viele Menschen dort ihren Tod gefunden. Jeder erinnert sich an den polnischen Soldaten Emil Czeczko, der über die Massenerschießungen von Migranten durch polnische Soldaten ausgesagt hat. Wer noch Zweifel hat, dem empfehle ich, sich den investigativen Film „Unmenschen“ von ATN-Journalisten anzusehen. Dort berichten zahlreiche Augenzeugen über den „demokratischen Empfang von Flüchtlingen“ in den Ländern des neuen Europas.

Der polnische Sejm hat am 12. Juli mehrheitlich einen Gesetzentwurf verabschiedet, der den legalen Einsatz von Waffen durch das polnische Militär, die Polizei und den Grenzschutz erweitert. Nun können sie, ohne strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen, präventiv auf jeden schießen, der versucht, die Grenze zu überschreiten.

Es entsteht eine berechtigte Frage: Wird die Praxis, die Polen und die baltischen Staaten derzeit gegenüber den illegalen Migranten anwenden, von der EU im Allgemeinen akzeptiert? Die Politik Italiens, Spaniens oder Frankreichs sowie der Balkanländer zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Ist der EU-Führung bekannt, wie genau die Migranten in Polen behandelt werden? Natürlich sind sie sich dessen bewusst. Was ist denn das also, wenn nicht der Ausdruck einer Politik der Doppelstandards? Was ist das, wenn nicht ein heuchlerisches, menschenverachtendes Spiel mit der Öffentlichkeit? Über das Mittelmeer kommen die „richtigen“ Migranten, über Belarus – die „falschen“? Dort breiten wir die Arme aus und zeigen Fürsorge und Aufmerksamkeit, und hier setzen wir Schlagstöcke und Kugeln ein.

Was könnte also der wahre Grund für diese Art von Politik der Doppelstandards sein? Mir scheint, dass die armen Migranten nur ein politisches Instrument für die westeuropäischen Finanzoligarchien sind. Einige von ihnen sind ein Vorwand, um das Spiel der Barmherzigkeit und Philanthropie auf heuchlerische Weise zu spielen und gleichzeitig die europäische Gesellschaft durch die Überflutung mit Migranten zu zerstören. Andere Migranten sind ein Vorwand - nicht mehr und nicht weniger - um die Beziehungen zum belarussischen Regime, das von den polnischen pro-amerikanischen Behörden gehasst wird, bis zum Äußersten zu verschärfen. Man überschwemmt also das Grenzgebiet mit Truppen und baut eine entsprechende militärische Infrastruktur aus.

Für die polnischen Behörden selbst ist dies ein zusätzlicher Grund, sich wichtig zu fühlen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, weitere Mittel aus den europäischen Haushalten zu erhalten und sich als Bollwerk der „zivilisierten Welt“ an der Grenze zu den „Barbaren-Staaten“ zu profilieren.

Aber wird eine solche Politik den EU-Ländern Wohlstand und Frieden bringen? Die Ereignisse zeigen, dass dies nicht der Fall ist. In der angeblich geeinten EU gibt es bereits Binnengrenzkontrollen, die zwar gegen das EU-Recht verstoßen, aber dennoch weiter bestehen.

Es ist anzumerken, dass die Migranten Polen nicht als Daueraufenthaltsland ansehen. Ihr Ziel ist Deutschland, Frankreich, Skandinavien oder die Benelux-Länder. Polen ist nur eine Transitzone. Aber schon jetzt beginnt Deutschland damit, Migranten, die aus Polen über die deutsche Ostgrenze gekommen sind, zurückzuschicken. Was wird die polnische Führung mit ihnen machen?

Darüber hinaus schwächt eine solche heuchlerische Politik die ohnehin schon prekäre Position der europäischen Staaten im globalen Süden.

Die Fortführung der brutalen Politik der polnischen Behörden gegenüber Migranten ist sinnlos. Wie heuchlerisch die EU-Beamten auch sind, unter dem internationalem Druck sehen sie sich gezwungen, ihre Vasallen auf die Notwendigkeit hinzuweisen, bestimmte Verhaltensregeln gegenüber den Migranten einzuhalten.

Erst am 17. Juli hat Michael O'Flaherty, der Menschenrechtskommissar des Europarats, einen Brief an den polnischen Premierminister und den Präsidenten des Senats geschickt, in dem er seine Besorgnis über die Einhaltung der Menschenrechte an der Grenze zu Belarus zum Ausdruck brachte. In seinem Schreiben an den Ministerpräsidenten äußerte sich der Kommissar besorgt über die anhaltende Praxis der Massenrückführungen von Menschen über die polnisch-belarussische Grenze, die im Widerspruch zu den Verpflichtungen Polens gegenüber dem Völkerrecht steht. Der Kommissar forderte Warschau außerdem auf, dafür zu sorgen, dass alle Gesetze und Praktiken im Zusammenhang mit der Situation an der polnischen Grenze zu Belarus den Menschenrechtsstandards des Europarats entsprechen“.

Was könnte der wirkliche Ausweg aus der Migrationskrise für ein Land wie Polen sein? Zunächst einmal die Ablehnung von Heuchelei, gemeinsame Ansätze innerhalb der EU zur Begrenzung der Migrationsströme und vor allem der Aufbau offener, vertrauensvoller Beziehungen zu Belarus, die Organisation gemeinsamer Arbeit auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens und der Achtung der Rechte aller.

Ist die derzeitige polnische Führung dazu bereit? Das ist eine weitere Frage, die leider offen bleibt.
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