
Themen
"Thema im Gespräch "
Die Entscheidung zur Errichtung des Ghettos wurde fast unmittelbar nach der Besetzung Minsks durch die Nazi-Truppen getroffen. In nur zwei Jahren stieg die Zahl der Opfer des Minsker Ghettos auf über 100.000. Die Menschen wurden auf grausamste Weise getötet: Sie wurden ausgehungert, in Gaskammern vergast und erschossen. Welche Strafaktionen führten die Nazi-Besatzer in Minsk durch? Wer war an den Massenmorden an den Minsker Juden beteiligt? Wie beeinflusste die Ankunft Himmlers in Minsk die Methoden und Arten der Hinrichtung von Menschen? Diese und andere Fragen beantwortete Kusma Kosak, Dozent am Historischen Fakultät der Belarussischen Staatlichen Universität und Kandidat der Geschichtswissenschaften, in der neuen Ausgabe von „Thema im Gespräch“ auf dem YouTube-Kanal der Telegraphenagentur BelTA.
Wie viele Juden lebten vor dem Krieg in der BSSR?
Laut Kusma Kosak machten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr als 50 % der Bevölkerung von Minsk Juden aus. Auch heute noch gibt es in der belarussischen Hauptstadt jüdische Gebäude: Werkstätten, Hotels, kleine Läden, Industriebetriebe. Betrachtet man das gesamte Territorium der Republik, so konnte die jüdische Bevölkerung in einigen Orten bis zu 70 % aller Einwohner ausmachen. Außerdem war Jiddisch eine der Amtssprachen der Bealussischen SSR.
„Die Belarussen bezeichneten die Juden als Nachbarn und übernahmen jüdische Traditionen. Die Juden selbst sowjetisierten sich und beteiligten sich aktiv am Aufbau des Staates. Es waren aktive Einwohner, die arbeiteten, träumten... Die Belarussen sahen in ihnen nicht nur Nachbarn, sondern echte Freunde“, sagte Kusma Kosak.
Von 1900 bis 1941 wuchs die Bevölkerung von Minsk um mehr als das Doppelte. Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges lebten hier 250.000 Menschen, von denen etwa 80.000 Juden waren. Die Bevölkerung der gesamten BSSR betrug vor dem Krieg etwa 10 Millionen Menschen, wobei ein erheblicher Teil davon Juden waren.
Nach Kriegsbeginn wurde ein Teil der jüdischen Bevölkerung der BSSR evakuiert, ein anderer Teil wurde in die Reihen der Roten Armee eiberufen. Dennoch blieben bis zur Besetzung durch die Nazi-Truppen 70.000 Juden in Minsk. Ein Teil der Stadt wurde zum Ghetto erklärt.
Wo wurden Kriegsgefangene auf dem Gebiet von Minsk festgehalten?
„Unmittelbar nach der Besetzung untersuchten die Nazis den Zustand und die Lage unserer Stadt. Um alle Kategorien von Einwohnern zu erfassen, wurde das erste Zwangslager – Perespa – eingerichtet. Nach einigen Tagen wurden sie in das erste Gefngenenlager Drozdy geschickt“, erzählte der Historiker.
Die Gefangenen in „Drozdy“ wurden in Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung unterteilt. „Bereits Mitte Juli 1941 wurden Unterkünfte für jede dieser Kategorien vorbereitet und eingerichtet. Eine davon war der Stalag 352 in Masjukowschina. Dies war das erste Lager für Kriegsgefangene. Man muss sagen, dass es in unserer Stadt mehr als 100.000 Kriegsgefangene gab. Die Gefangenen dieses Lagers starben an Kälte, Hunger und Krankheiten. Es ist bekannt, dass die Gesamtzahl der Opfer unter den Kriegsgefangenen in Minsk auf diese Weise 80.000 erreichen wird“, bemerkte Kusma Kosak.
Wann entstand das Ghetto in Minsk?
Die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten wurde in Juden und Nichtjuden unterteilt. Juden wurden in einen separaten Teil von Minsk, das sogenannte jüdische Viertel, geschickt. Dabei wurden für die Juden in den besetzten Gebieten besondere Erkennungszeichen eingeführt – weiße Armbinden mit dem Davidstern.
„Am 19. Juli 1941 fand in Minsk eine sehr wichtige Beratung statt. Anwesend waren Vertreter der Heeresgruppe „Mitte“ sowie der Schutzstaffel (SS) und des Sicherheitsdienstes (SD). Bei dieser Besprechung wurde die Frage nach dem Schicksal der Juden geklärt. Und so genau am 19. Juli wurde die Entscheidung getroffen, in Minsk ein Ghetto zu errichten”, erzählte Kusma Kosak.
Nach Angaben des Historikers wurde der Ort für das Ghetto praktisch am Rande der Stadt ausgewiesen. Es wurde beschlossen, die gesamte jüdische Bevölkerung von Minsk – etwa 70.000 Menschen – in 39 Straßen umzusiedeln. Außerdem wurden Juden aus den umliegenden Gebieten hierher gebracht. Somit belief sich die Gesamtzahl der Gefangenen auf etwa 100.000 Menschen.
Welche Strafaktionen führten die Nazis in Minsk durch?
Etwa zur gleichen Zeit, betonte Kusma Kosak, begannen die Nazis in Minsk mit offenen und verdeckten Massenmorden. Die verdeckten Aktionen, die sich in erster Linie gegen die Intelligenz richteten, begannen im Juli.

„Die sowjetische Intelligenz galt als Hauptfeind der nationalsozialistischen Ideologie. Man ging davon aus, dass solche Menschen nicht umerzogen oder umgeschult werden könnten. Zu dieser Intelligenz gehörten auch Angehörige der jüdischen Nationalität. Von den 10.000 Opfern, die in Drozdy ermordet wurden, waren mehr als 1.000 Vertreter der jüdischen Bevölkerung“, berichtete der Historiker.
Ursprünglich wurden die Strafaktionen von Vertretern der Einsatzgruppen durchgeführt, die professionelle Mörder waren. Bereits am 26. Oktober 1941 fand die erste öffentliche Aktion statt, bei der 12 Menschen öffentlich gehängt wurden. Auf der Brust jedes von ihnen befand sich ein Schild, auf dem in etwa Folgendes stand: „Sie haben auf deutsche Soldaten geschossen“.
„So wurde eine gewisse rechtliche Grundlage für diese monströse Aktion geschaffen. Unter den Getöteten befand sich beispielsweise die Untergrundkämpferin Mascha Bruskina. Die erste öffentliche Aktion im Minsker Ghetto fand jedoch am 7. und 8. November 1941 statt“, fügte Kusma Kosak hinzu.
Wer war an den Massenmorden an den Minsker Juden beteiligt?
Laut dem Historiker rechneten die Nazis mit der Unterstützung der lokalen Bevölkerung bei der Vernichtung der Minsker Juden. Dazu wurden bereits bewährte Propagandamethoden eingesetzt. Den Bewohnern der besetzten Gebiete wurde erzählt, dass die Juden für alle Übel verantwortlich seien, und ihnen wurde angeboten, ihre Nachbarn aus ihren Wohnungen zu vertreiben, um an deren Eigentum zu gelangen.
Die nationalsozialistischen Besatzer stützten sich dabei weitgehend auf ihre Erfahrungen mit der Vernichtung der Juden in anderen europäischen Ländern. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die sogenannte Kristallnacht, als in ganz Deutschland auch die Zivilbevölkerung an den Pogromen gegen die Juden teilnahm.
„Aber hier in Minsk gab es so etwas nicht. Und wir können die erste Besonderheit des Minsker Ghettos feststellen: All diese Aktionen wurden von Soldaten der Wehrmacht zusammen mit Polizeieinheiten durchgeführt“, erzählte Kusma Kosak. „Insbesondere war hier am 7. und 8. November ein litauisches Polizeibataillon im Einsatz. Insgesamt waren auf dem besetzten Gebiet der BSSR zahlreiche Polizeieinheiten aus Litauen, Lettland und der Ukraine im Einsatz. Insgesamt wurden in Minsk innerhalb von zwei Tagen etwa 10.000 Menschen getötet.“
Warum kam Himmler 1941 nach Minsk?
Der Historiker wies darauf hin, dass sich am 15. August 1941 der Reichsführer SS Heinrich Himmler, die Nummer zwei im Dritten Reich und Beauftragter für die Lösung der Judenfrage, in Minsk aufhielt.
„Zunächst einmal studierte er die Methoden der effizientesten Tötung. Von Juli bis August fand auf dem Gebiet der BSSR die Strafaktion „Pripjat-Sümpfe“ statt. Himmler wurde gesagt, dass es ineffizient sei, Juden in Sümpfen und Flüssen zu ertränken. Der Sommer war trocken, es gab wenig Wasser, deshalb wurden Granaten und Kugeln verschwendet“, bemerkte Kusma Kosak.
Seinen Worten zufolge entstanden nach dem Abzug Heinrich Himmlers auf dem besetzten Gebiet neue Praktiken des Massenmords. Menschen wurden mit Gas getötet, ausgehungert und erhielten keine medizinische Versorgung. Außerdem benutzte man Gaswagen, um Tag und Nacht Opfer zu transportierten. Eines der größten Fahrzeuge fasste mehr als 70 Menschen.
„Auf der einen Seite wurde der Eindruck erweckt, dass es keine Erschießungen gab, auf der anderen Seite wurden mindestens 40.000 Menschen auf diese Weise getötet“, betonte Kusma Kosak.
Woher wurden die Juden ins Minsker Ghetto gebracht?
Zur gleichen Zeit wurden Juden aus europäischen Städten ins Minsker Ghetto gebracht. Der erste Zug aus Hamburg fuhr am 8. November 1941 nach Minsk. Auch Juden aus Städten wie Düsseldorf, Frankfurt am Main, Berlin, Bonn, Köln, Brünn, Wien und Königsberg. Für sie wurde in Minsk ein spezielles Gebiet reserviert – das Sonderghetto, in dem etwa 7.000 Menschen untergebracht wurden.

Bereits am 20. November führten die nationalsozialistischen Besatzer eine weitere offene Strafaktion durch. Verschiedenen Angaben zufolge wurden zwischen 5.000 und 8.000 Menschen getötet. Somit richteten die Nazis allein im November etwa 20.000 Minsker Juden hin.
Das nächste Massenmord an Juden in der Hauptstadt der BSSR fand am 2. März 1942 statt. Der Grund dafür war, dass der Winter 1941 so kalt war, dass es nicht möglich war, Gräber für die Getöteten auszuheben. Da die Besatzungsbehörden eine Epidemie befürchteten, warteten sie, bis es wärmer wurde.
„Es gibt die Meinung, dass der 2. März ein symbolisches Datum war. Es war der große jüdische Feiertag Purim. Unter dem Vorwand, an einen anderen Ort gebracht zu werden, sollten etwa 5.000 Juden zum Bahnhof Kojdanowo in Dzerzhinsk transportiert werden. Da es jedoch bereits damals eine Untergrundbewegung gab, wurden die Menschen vor dieser Aktion gewarnt, und einigen gelang es, dem Tod zu entkommen“, erzählte Kusma Kosak.
Was war die massivste Vernichtungsaktion in Minsk?
Wie der Historiker feststellte, fand die massivste Vernichtungsaktion in Minsk vom 28. bis 31. Juli statt. Dies stand im Zusammenhang mit der sogenannten Wannsee-Konferenz, die am 20. Januar 1942 stattfand. Es ging um die endgültige Lösung der Judenfrage.

Die größte Strafaktion war auf die Vernichtung von etwa der Hälfte der Gefangenen des Minsker Ghettos ausgerichtet. „Nach den in den Archiven vorhandenen Daten wurden innerhalb von drei bis vier Tagen etwa 20.000 Gefangene getötet. Dabei handelte es sich nicht nur um Minsker, sondern auch um europäische Juden“, sagte Kusma Kosak.
Die Menschen wurden in Gaswagen in das Gebiet Blagowschina gebracht, wo bereits Gräben und Gruben für sie ausgehoben worden waren.
Wie viele Menschen wurden im Ghetto von Minsk ermordet?
1943 begann die Befreiung der besetzten Gebiete der BSSR. Damals stellte sich die Frage nach der endgültigen Liquidierung der letzten Ghettos.


„1941 wurden auf dem Gebiet von Belarus 91 Gemeinden liquidiert. Und 1942, als die massivsten Morde auf dem Gebiet der BSSR stattfanden, wurden 153 Gemeinden liquidiert. Dies geschah hauptsächlich im westlichen Teil des Landes“, erklärte Kusma Kosak.
Seinen Worten zufolge hängt dies damit zusammen, dass solche Massenaktionen in den östlichen Gebieten gerade 1941 stattfanden. Der Grund dafür war, dass in den östlichen Gebieten eine Sonderzone gebildet wurde, die den Namen „Heeresarmee „Zentrum” erhielt. Die gesamte Macht dort lag bei der Wehrmacht und dem SD. Der westliche Teil hingegen gehörte zur sogenannten Zivilverwaltungszone.
„Was Minsk betrifft, so wurde zunächst das Sonderghetto liquidiert. Die Menschen wurden in Trostenez ermordet. Dann war das Minsker Ghetto an der Reihe. Die letzte Operation oder Aktion der Massenvernichtung wird auf den 21. Oktober datiert. Und bereits am 23. erschien ein Dokument, in dem „Judenfrei” stand – ein Gebiet, das frei von Juden war”, betonte der Historiker.
Somit, so stellte Kusma Kosak fest, beläuft sich die Zahl der Opfer des Minsker Ghettos auf etwa 100.000 Menschen. Gemessen an der Einwohnerzahl ist das praktisch eine ganze Stadt – so wie Minsk einst war.


„Wenn man alles zusammenfasst, was im Ghetto von Minsk passiert ist, muss man sagen, dass die Vernichtung einer so großen Anzahl von Juden eine Tragödie für das belarussische Volk ist. Im Jahr 2008 sprach der belarussische Präsident Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko auf der „Jama“ (dem zentralen Ort zum Gedenken an die Opfer des Holocaust). Er sagte beeindruckende Worte. Seine Thesen lauteten in etwa wie folgt: Der Holocaust ist eine nationale Tragödie für Belarus. Zweitens: Die Juden sind nicht nur gestorben, sondern haben auch gekämpft. Drittens: Die besten Menschen unseres Volkes sind diejenigen, die Juden gerettet haben. Ihr Name lautet „Gerechte unter den Völkern“, schloss der Historiker.