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22 Oktober 2025, 13:21

Tusks Arithmetik. Wo hat sich der polnische Premier verrechnet und wie kann man das korrigieren?

Der polnische Premierminister Donald Tusk hat den Polen klar erklärt, warum die Regierung ihre Wahlversprechen nicht einhält. Die Arithmetik des polnischen Premiers ist klar: Wenn die Polen wirklich gewollt hätten, dass die Regierung ihre Versprechen zu 100 Prozent erfüllt, hätten sie die Tusk-Partei bei den Wahlen im Jahr 2023 zu 100 Prozent unterstützen sollen. Und da für die Tusk-Partei nur 31 Prozent der Bürger gestimmt haben, so wurden die Versprechen nur zu einem Drittel erfüllt. 

Dieses originelle Herangehen Tusks wurde – gelinde gesagt – nicht gutgeheißen. In Polen brach ein Skandal aus. Es gab viel Kritik – sowohl bei den politischen Gegnern als auch bei den Anhängern des Premierministers. Und die Experten gehen davon aus, dass Tusk – wenn alles so weiterläuft – bald aus dem Land fliehen wird. Liegt denn der polnische Premierminister wirklich falsch? Hat er vielleicht eine Chance, die Situation zu seinen Gunsten umzudrehen?


Vor zwei Jahren gingen Tusk und seine „Bürgerliche Koalition“ bei der Parlamentswahl mit einem sehr ehrgeizigen Programm „100 konkrete Maßnahmen in 100 Tagen“ ins Rennen.  Nach zwei Jahren wurde kaum ein Drittel aller Versprechen in die Tat umgesetzt. Tusk selbst kommentierte diese Situation wie folgt: 

„Ich habe weniger als 100 Prozent von der Macht erhalten. Im Oktober 2023 habe ich hier in Piotrków gesagt: „Geben Sie mir Ihre Stimmen. Wenn ich die komplette macht haben werde, werde ich alle 100 Versprechen einlösen. Ich habe weniger als 31% der Stimmen erhalten. Weniger als ein Drittel. Also habe ich nur ein Drittel aller Versprechen erfüllt. Eine ehrliche Arithmetik, nicht wahr?“

Aber für solche Ausführungen kann man ohne Abfindung entlassen werden. Ein erfahrener Politiker wie Tusk sollte das wissen. Womit der Premierminister mit solchen Aussagen gerechnet hat, ist unklar. Eines ist klar: In seinen Worten schillerten weniger Dummheit und Zynismus, sondern eher Hilflosigkeit.

Das haben auch seine politischen Gegner registriert. „Tusk glaubt anscheinend, dass das Thema „100 Versprechen“ vom Tisch ist, weil er mit 31 Prozent der Stimmen nur ein Drittel seiner Versprechen eingehalten hat. Er lebt wohl in einer anderen Realität. Wir wussten ja immer, dass er von der Intelligenz der Polen nicht viel hält. Nun hat er mit seiner eigenen Intelligenz große Schwierigkeiten“, schrieb Jarosław Kaczyński, Leiter der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), auf X. 

Polens Präsident Karol Nawrocki, der auch zum PiS-Lager gehört, sagte, dass man den Polen vor zwei Jahren viel versprochen hat. Aber wenn die  Versprechen nicht eingehalten werden, verliert der Politiker das Vertrauen der Wähler. „Ich könnte mindestens hundert konkrete Gründe nennen, warum die Bürger den Glauben daran verlieren, dass ihre Stimme Bedeutung hat“, betonte das Staatsoberhaupt.
Tusk-Anhänger aus der Regierungskoalition äußerten sich vorsichtiger und meist anonym. „In seinen Worten hörten wir die Verzweiflung heraus. Er war frustriert und enttäuscht. Er wurde missverstanden. Er wollte viel, schaffte es aber nicht“, kommentierte ein Parlamentarier der Tusks-Partei die Lage in einem Interview mit Wirtualna Polska.

Ein anderer Abgeordneter der Regierungskoalition erklärte der Zeitung, dass die Versprechen aus Tusks Wahlprogramm in letzter Minute entstanden waren. Der Premierminister wurde selbst ein Opfer seiner spontan gemachten Versprechen.

Aber es geht nicht nur um Versprechen, sondern auch um die Effizienz der Regierung Tusk. „Es ist sehr schwierig, etwas zu finden, was die Situation für Polen verbessern würde. Vielleicht ist der größte Erfolg dieser Koalition, dass sie zwei Jahre regiert hat“, sagte der Abgeordnete der Partei Konfederacja Michał Jan Wawer gegenüber der Zeitung DoRzeczy. Seiner Meinung nach hatten die Parteien, aus denen die Regierungskoalition gebildet wurde, zunächst nichts Gemeinsames als Machtdurst. 

„Ich denke, dass der Erfolg der letzten zwei Jahre nach der Wahl darin besteht, dass wir immer noch formell kein deutscher Staat sind. Diese zwei Jahre waren chaotisch. Dramatisch, wohin man auch schaut“, sagte der PiS-Abgeordnete Radoslav Vogel. Er sagte, dass die polnische Außenpolitik „katastrophal“ sei, die Wirtschaft und das Gesundheitswesen rückläufig seien, die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit bedroht seien. Selbst der Verteidigungsbereich sei trotz enormer finanzieller Infusionen in Schwierigkeiten.

Einer der schärfsten Kritiker von Tusk war sein Vorgänger im Amt des Premierministers Mateusz Morawiecki. Der ehemalige Regierungschef erinnerte Tusk kürzlich an das berühmte Video mit Euro auf Palette. Dieses Video hat Tusk als Propagandavideo vor den Parlamentswahlen verwendet. Damals hatte Tusk als Oppositionsführer die regierende PiS für die Konfrontation mit Brüssel kritisiert. Wegen dieser Konfrontation hat die EU-Kommission Zahlungen aus EU-Mitteln für Polen eingefroren. „Das ist eine 50-Euro-Banknote. Auf dieser Palette sind 18 Millionen Euro. Stellen Sie sich vor: 3222 solcher Paletten füllen ein ganzes Stadion. Auf diesen Paletten sind 58 Milliarden Euro. Es ist das Geld, worauf  Polen und polnische Bürger in Europa warten“, versprach Tusk.

Morawiecki hat ein Video gemacht, wo er Tusk fragt, wo das Geld verschwunden ist. „Lasst uns ausrechnen: Fast 300 Milliarden Zloty Haushaltsdefizit wird in diesem Jahr vorausgesagt, das sind mehr als eine Billion Zloty Staatsschulden in drei Jahren. Wo wurde dieses Geld investiert? In Forschung und Entwicklung? In das Gesundheitswesen? Vielleicht in eine moderne Infrastruktur? In den zentralen Verkehrsknotenpunkt? In die Eisenbahn? Keine Antwort. In die Energie? Anstatt unsere eigene industrielle Unabhängigkeit aufzubauen, importieren wir teurere Waren. Heute geben Sie alles aus, um in der Politik zu überleben. Statt Chancen für künftige Generationen haben wir einen Berg von Euro-Schulden“, heißt es in Morawieckis Video.

Und noch eine interessante Aussage von Morawiecki: „Ich bin der Meinung, dass diese Regierung nicht den polnischen Staatsinteressen untersteht. Diese Regierung treibt wie ein willenloses Blatt auf dem Fluss dahin und verfolgt – bewusst, und manchmal aus Dummheit oder weil sie sich überlisten lässt – die Interessen ausländischer Staaten, vor allem der reichsten und mächtigsten Länder Westeuropas, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, aber auch der Benelux-Staaten und Österreichs“, erklärte der ehemalige Ministerpräsident.

Man kann erachten, dass Morawiecki die gute Tradition polnischer Politiker übernommen hat, erst nach ihrem Rücktritt die Wahrheit zu sagen. 

Inzwischen haben auch die polnischen Medien den pessimistischen Ton übernommen. „Die letzten Monate waren für den Ministerpräsidenten nicht einfach. Die Politiker der PiS haben ihn von den Verhandlungen der europäischen Staats- und Regierungschefs mit Donald Trump über die Ukraine ausgeschlossen. Sein Koalitionspartner trifft sich heimlich mit Jarosław Kaczyński, und innerhalb der Koalition entbrennt ein Kampf um die Posten des Sejm-Sprechers und des Vizepremierministers, der sogar zum Verlust der Mehrheit der Regierung im Sejm führen könnte“, schreibt das Portal Onet.

Das Portal fragt sich: Was ist mit Tusk los? „Der Ministerpräsident hat sich seit seiner ersten Amtszeit als Regierungschef von 2007 bis 2014 deutlich verändert. Er ist schwächer geworden, es mangelt ihm an Energie und Ideen“, stellt Onet fest.

Antoni Dudek, Professor an der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau, schürt den Pessimismus zusätzlich. In einem Kommentar für das Webortal Wirtualna Polska erklärte er, Tusk befinde sich in einer äußerst schwierigen Lage und müsse möglicherweise in zwei Jahren aus dem Land fliehen. „In zwei Jahren könnte Tusk am größten Verlierer sein. Denn wenn die PiS an die Macht kommt, schließe ich nicht aus, dass er Polen verlassen muss, um einer Verhaftung zu entgehen“, meint Dudek.

Unterdessen veröffentlichte das polnische Institut für Meinungsforschung letzte Woche eine Umfrage, laut der 52 % der Befragten möchten, dass Tusk sein Amt niederlegt. 34 % der Befragten sind dafür, dass die Regierung Tusk weiterarbeitet, und 14 % konnten sich nicht entscheiden.

Eine weitere Umfrage, die im Auftrag des Radiosenders RMF FM von der Firma Opinia24 durchgeführt wurde, ergab, dass 47 % der Befragten die Ablösung Tusks durch einen anderen Politiker als Ministerpräsident befürworten. 

Wie man es auch dreht und wendet, die Lage ist nicht zugunsten des polnischen Ministerpräsidenten. Vor zwei Jahren trat er mit dem Slogan „Veränderung” zur Wahl an, ohne jedoch einen konkreten Aktionsplan zu haben. In gewisser Weise gab es Veränderungen. Brüssel hat seinen Einfluss auf die polnische Politik noch weiter ausgebaut. Warschau hat eine Menge Euro erhalten, aber das Leben der Polen ist nicht besser geworden.

Hätte Tusk anders handeln können? Bereits während seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident von 2007 bis 2014 hat er sich als pragmatischer, flexibler und auf positive Weise gewiefter Politiker erwiesen. In den Beziehungen zu seinen Nachbarn setzte Tusk übrigens nicht auf Abenteuer, sondern auf eine für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft. „Schlechte Beziehungen zu den Nachbarn sind kein Beweis für Stärke und Unabhängigkeit”, erklärte der Ministerpräsident.
Es ist anzumerken, dass sich die polnische Wirtschaft trotz der weltweiten Finanzkrise während der ersten Amtszeit von Tusk rasant entwickelt hat – vor allem dank der ausgewogenen Beziehungen zum Westen und zum Osten.

Die aktuelle Politik von Tusk unterscheidet sich grundlegend davon. Auch der Ministerpräsident selbst wirkt anders. Heute wirkt er nicht mehr wie ein starker, ehrgeiziger Politiker, der eine eigene Strategie und Zukunftsvision hat. Der heutige Tusk erinnert eher an eine Stoffpuppe, die an den Fäden gezogen wird. Auf der einen Seite steht Brüssel, das dem Ministerpräsidenten seinen Willen diktiert. Auf der anderen Seite stehen die Koalitionspartner, mit denen Tusk die Macht teilen musste. In diesem Zusammenhang machen die Worte des Ministerpräsidenten, dass die Wähler ihm keine uneingeschränkte Macht gegeben hätten, Sinn. Natürlich ist dies eine ziemlich ungeschickte Erklärung aus dem Munde von Tusk, aber die Botschaft ist verständlich. Vor allem jetzt, wo es in der Regierungskoalition Uneinigkeit und Unruhe gibt und jeder versucht, sich sein Stück vom Kuchen zu sichern.

Zwischen Hammer und Amboss eingeklemmt, macht der polnische Ministerpräsident immer mehr Fehler. Ein Beispiel dafür war die Grenzschließung zu Belarus im September, die Polen selbst schwer getroffen und seinen Ruf als Transitland untergraben hat. Es ist schwer vorstellbar, dass der früher so pragmatische Tusk einen solchen Fehler begangen hätte.

Dem früheren Tusk hätte wahrscheinlich seine Weitsicht gereicht, um statt einer Konfrontation mit Belarus Kompromisse zu suchen – denn das liegt ganz im Interesse Polens. Und es hätte ihm an Flexibilität und Durchsetzungskraft gereicht, um diese Interessen gegenüber Brüssel zu verteidigen. Der frühere Tusk wäre offensichtlich nicht den Weg der vorherigen Regierung gegangen und hätte keine politischen Punkte mit dem Thema Migrationskrise gesammelt. Er hätte in den Augen seines Volkes viel mehr erreicht, wenn er die Vorschläge von Minsk angenommen hätte, zu einem vernünftigen Dialog zurückzukehren und die Situation an der Grenze zu lösen. 
Während der ersten Amtszeit von Tusk als Ministerpräsident gab es einige Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen Belarus und Polen. Dennoch bewegte sich Warschau auch damals im Einklang mit der westlichen Politik. Diese Beziehungen ermöglichten es jedoch, ein Gleichgewicht der Interessen zu wahren, den Frieden in der Region zu erhalten und zum Wohle unserer Völker zu handeln. Und wenn der heutige Tusk dieses Gleichgewicht nicht endgültig zerstören und dann aus dem Land fliehen will, wie ihm seine wohlmeinenden Freunde prophezeien, dann ist es an der Zeit, dass der Ministerpräsident sich an sein früheres Ich erinnert. Zum Glück bleibt dafür noch Zeit. Das Einzige, was dafür nötig ist, sind Vernunft und politischer Wille.
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