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"Zitadellen der Tapferkeit "
Die Faschisten nahmen Retschiza zwei Monate nach Kriegsausbruch. Es gab keine anhaltenden Kämpfe. Die Stadt war 817 Tage lang von den Nazis besetzt und erlitt enorme Verluste, aber die Eroberer konnten den Geist des siegreichen Volkes nicht brechen.
"Ich habe diesen Krieg gesehen!“
Die Tage des 92-jährigen Nikolai Saizew sind praktisch stundenweise verplant. Der Vorsitzende des Ältestenrats im Kreiskomitee Retschiza hat wirklich viel zu tun, aber seit vielen Jahren nimmt er sich im April immer etwas Zeit für etwas ganz Wichtiges: Er besucht persönlich alle lokalen Denkmäler und Grabstätten aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges. Nikolai Wassiljewitsch möchte sicher sein, dass nicht nur er selbst den Tag des Sieges mit voller Pracht feiert, sondern auch die Orte, die zur letzten Ruhestätte für diejenigen geworden sind, die für immer in den „vierziger Jahren“ geblieben sind.
„Wir haben 126 Grabstätten, darunter auch Massengräber. Dort ruhen mehr als 14.500 Menschen! Davon sind mehr als 8.000 Soldaten und Offiziere, alle anderen sind Zivilisten. Eine Kommission, der auch ich angehöre, überwacht den Zustand dieser Denkmäler. Auch dieses Jahr war ich auf Inspektionsfahrt – es gab ein paar Kleinigkeiten zu verbessern, aber es gibt keine ernsthaften Beanstandungen“, berichtet Nikolai Wassiljewitsch fröhlich und erklärt kurz, warum er immer wieder alle Gedenkstätten besucht, obwohl in Retschiza die Erhaltung der Denkmäler aus den Kriegsjahren auf höchster Ebene gepflegt wird: „Ich kann nicht anders. Ich habe diesen Krieg gesehen!“

Er war erst 9 Jahre alt, als der Krieg begann. Nikolai lebte damals mit seiner Familie im Dorf Kusminka, 43 Kilometer von Retschiza entfernt. Das Dorf war nicht klein – 47 Höfe, fast 170 Einwohner. Nikolai Wassiljewitsch erinnert sich, dass er bereits Anfang August 1941 die ersten Deutschen sah:
„Sie fuhren durch unser Dorf auf Motorrädern und verschwanden. Bis zum Sommer 1943 kamen sie nicht mehr zu uns. Aber im Juni kamen sie wieder ins Dorf und brannten es nieder. Alle Dorfbewohner wurden nach Retschiza geführt. Zu Fuß. Neben mir gingen Kinder im Alter von 4-5 Jahren, sie wurden schnell müde und weinten, aber sie gingen weiter. Wir hielten nur an, wenn die Deutschen selbst eine Pause machen wollten.
Damals verschleppten die Besatzer seine Mutter, seinen älteren Bruder und seine Schwestern in die Westukraine. Nikolai blieb bei seinem behinderten Onkel in Retschiza. Dort blieb er weniger als ein halbes Jahr – bis zur Befreiung – aber er sah Dinge, die ein Kind besser nie sehen sollte.
„Die Faschisten verübten Gräueltaten. In der Sydko-Straße, damals Woksalnaja-Straße, befand sich der Sicherheitsdienst, wo die Nazis Menschen verhörten und danach in einer Scheune erschossen“, präzisiert Nikolai Wassiljewitsch.
Im Hof des berüchtigten Gebäudes in der Woksalnaja-Straße wurden nach der Befreiung der Stadt vier Massengräber entdeckt. Die Einheimischen erinnerten sich, dass dort jeden Tag von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends Erschießungen stattfanden. Es ist nicht verwunderlich, dass allein in einem dieser Gräber etwa 300 Leichen gefunden wurden.
„Ich habe gesehen, wie eine Verbindungsfrau der Partisanen zum Verhör gebracht wurde. Ich glaube, sie hieß Anna. Sie wurde später am Markttor aufgehängt, und drei Tage lang durfte man die Leiche nicht abnehmen – sie diente zur Abschreckung für alle, die den Partisanen helfen wollten“, erzählt der Veteran.
Aber die Einwohner von Retschiza arbeiteten weiterhin aktiv mit den Partisanen und den Untergrundkämpfern zusammen. Darunter auch eine Verwandte von Nikolai Saizew. Sie wurde aufgespürt und ihr Haus wurde durchsucht.
„Sie haben nichts gefunden und wollten schon gehen. Aber dann hob ein deutscher Soldat einen Topf und sah Flugblätter auf dem Tisch“, sagte der Veteran. „Sie nahmen alle mit zum SD und folterten sie. Ihr Sohn erzählte, dass er zum Tor kam und seine Mutter sah: sie war völlig blass nach dem Foltern. Sie sagte, dass die Deutschen ihr Nadeln unter die Fingernägel geschoben haben. Sie hat niemanden preisgegeben. Sie hat geschwiegen. Am Ende wurde sie hingerichtet.“
Nikolai Wassiljewitsch erinnert sich noch heute daran, wie ein widerwärtiger Polizist auf der Lenin-Straße Juden suchte, um sie zu erschießen. Der Veteran schrieb dessen Nachnamen auf, um nicht zu vergessen: Das Böse hat auch ein menschliches Gesicht.
Die Schrecken der „neuen Ordnung“
Als Nikolai Wassiljewitsch im Sommer 1943 nach Retschiza kam, war die Stadt bereits seit fast zwei Jahren besetzt. Sie lebte nach den Regeln der „neuen Ordnung.“ Dort gab es Gefängnisse und Gestapo, Gendarmerie, Feldkommandantur, Polizei, SS und Massenhinrichtungen. Alte, Frauen, Kinder und Kriegsgefangene wurden allerdings fernab von den Augen der Öffentlichkeit getötet – auf geschlossenem Fabrik-Gelände, außerhalb der Stadt, im Wald.
„Sehr bald nach dem Kriegsbeginn wurde in der Stadt und der Umgebung eine Mobilisierung durchgeführt. In Retschiza wurde ein Vernichtungsbataillon ins Leben gerufen, geleitet vom Direktor eines Industriekombinats, Major der Reserve Alexander Miklaschewitsch. Es wurde eine Volksmiliz gebildet, die bereits am 1. August 1941 mit 844 Kämpfern die größte in der Region war. Die meisten von ihnen waren von der Mobilmachung befreit, aber in der Lage, Waffen zu tragen. Später schloss sich ihnen vorübergehend eine Truppe von 30 Grenzsoldaten an, die über zwei gekoppelte Maschinengewehrstellungen, Handmaschinengewehre und andere Waffen verfügten“, erzählt Natalja Sajewa, Direktorin des Heimatkundemuseums Retschiza.
Die Volksmiliz half bei der Evakuierung von Unternehmen, bei der Verminung der Zufahrtswege zur Stadt und bewachte die Lebensmittellager. Außerdem grub sie zusammen mit anderen Einwohnern Schützengräben und Panzergräben, die schließlich ganz Retschiza umgaben.
Die Frontlinie rückte unaufhaltsam näher an die Kreisgrenzen heran. Einheiten des Jagdgeschwaders verteidigten zusammen mit Teilen der regulären Armee die Kreise Retschiza und Paritschi. Aber am 23. August 1941 marschierten die Deutschen dennoch in die Stadt ein.
„Anfang September 1941 führten die Besatzer eine Volkszählung der jüdischen Bevölkerung durch und trieben bis November 785 Familien in das Ghetto – ein zweistöckiges Gebäude im Fabrik- und Werksviertel. Bis Mitte Dezember wurden von dort täglich Juden in Gruppen zur Erschießung abtransportiert. Ihre Überreste wurden 1946 in einem Massengrab beigesetzt, an dem heute ein Denkmal aus schwarzem Marmor mit der Inschrift steht: „3000 Menschenopfer. Wofür? 25. November 1941“, präzisiert die Museumsleiterin.
Während der deutschen Besatzung wurden im Kreis Retschiza 119 Dörfer niedergebrannt, 69 davon samt der Einwohner. Heute befinden sich an diesen Stellen in Buschewka, Dubrowa, Gorwal, Krynki und vielen anderen Dörfern Massengräber. Am 14. Mai 1943 wurden allein im Dorf Perwomaisk 1050 Menschen erschossen und verbrannt. Mehr als 600 davon waren Kinder.
Ganze Familien gingen zu Partisanen
Trotz der schrecklichen „neuen Ordnung“ entstand im September 1941 in Retschiza die erste Gruppe von Untergrundkämpfern. Es waren junge Komsomol-Mitglieder unter der Führung von Pawel Markal. Sie hörten über das Radio die Meldungen des Sowinformburos, schrieben sie von Hand ab und verteilten sie unter den Einwohnern der Stadt. Später begannen sie, dem Untergrundkomitee von Retschiza und dem Untergrundkomitee der Komsomol in Gomel Informationen über die Lage in der Stadt, Standorte und Zahl der Militäreinheiten sowie über die Bewegungen der feindlichen Truppen zu übermitteln.
Im Mai 1942 wurde eine weitere Untergrundgruppe gegründet, die die Partisanen mit Lebensmitteln versorgte. Die Lebensmittel wurden auf fiktive Bestellungen hin bezogen und zusammen mit Medikamenten und Waffen an die Partisanen geliefert. Doch bereits im August wurde diese Gruppe aufgedeckt. Fast alle wurden verhaftet. Nachdem die Untergrundkämpfer gefoltert worden waren, wurden sie erschossen, einige zusammen mit ihren Familien. Ebenso wurde mit einigen Untergrundkämpfern aus der Gruppe verfahren, die in der städtischen Druckerei organisiert war. Während des Krieges wurde sie vom Lehrer der Pädagogischen Hochschule Iwan Uschopow geleitet. Einer der Untergrundkämpfer, der Flugblätter druckte und unter den Bürgern verteilte, war Georgi Malaschizki. Als die Gruppe den Deutschen ausgeliefert wurde, wurde seine gesamte Familie erschossen. Der Kinderschuh der 11 Monate alten Nadeschda Malaschitzkaja, der in einer der Grabstätten gefunden wurde, ist heute das herzzerreißende Ausstellungsstück des Heimatmuseums von Retschiza.
Obwohl die Teilnahme am Untergrundkampf lebensgefährlich war, gab es immer mehr Menschen, die sich diesem Kampf anschließen wollten. Allein in der Stadt gab es fünf Untergrund-Gruppen. Im Frühjahr 1942 schlossen sich die Menschen sehr aktiv den Partisanengruppen an und gründeten neue. Im Mai wurde die Woroschilow-Gruppe gegründet, deren Kommandeur Makar Turtschinski war. Ganze Familien schlossen sich dieser Gruppe an! Im September 1942 zählte sie bereits 1242 Partisanen. Diese Gruppe hat viele sehr mutige Operationen durchgeführt. Eine davon war das Attentat auf den Bürgermeister von Retschiza Karl Gerhard. Es wurde von den Partisanen Fjodor Wischnjak und Andrej Batura ausgeführt“, präzisiert Natalja Sajewa.
Für seine „Treue dem Führer“ und für seinen Eifer schenkten die Faschisten Karl Gerhard ein Gutshaus. Zur Einweihungsfeier lud er die lokale „Prominenz“ ein: den Gestapo-Chef, den Militärkommandanten, den Polizeichef und viele andere. Zwei Partisanen schlichen sich mitten in der Nacht, als es regnete, zum Gutshaus, töteten die Hunde, warfen eine Granate durch das Fenster und flohen. Gerhard wurde getötet, seine Frau und ein Offizier der Gendarmerie wurden verletzt. Danach begannen wilde Verhaftungen.
Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Sieg wurde die Dankbarkeit gegenüber denen, die in Retschiza gegen das „neue Regime“ gekämpft hatten, in einem Denkmal verewigt. Es wurde 2002 nicht weit vom Stadtmuseum eröffnet. Die hier in Stein gemeißelten Gesichter zeigen die Züge echter Partisanen und Untergrundkämpfer. In der Mitte steht Turtschinski, und die einzige Frau unter ihnen ist Maria Korako, die seit ihrem 16. Lebensjahr gleichberechtigt mit den Männern kämpfte und manchmal sogar die Soldaten zur Attacke ermutigte.
Es waren bittere Kämpfe
Die Schlacht um Retschiza war eine der wichtigsten Etappen der Offensive der belarussischen Front bei Gomel und Retschiza, die vom 10. bis zum 30. November 1943 stattfand. Drei Tage lang wurden heftige Kämpfe ausgetragen, bevor es gelang, die Stadt zu befreien. Der Sturm auf die Stadt begann am 17. November um 10 Uhr morgens. Bereits um 11 Uhr hatten unsere Soldaten den zentralen Teil von Retschiza eingenommen und erreichten in der Nähe des Bahnhofs das Ufer des Dnepr. Am Nachmittag näherten sich Regimenter und Bataillone der 170. Schützendivision dem Bahnhof.
„Die Faschisten erwarteten den Angriff unserer Truppen von der West- und Nordseite der Stadt und zogen sich daher an den südöstlichen Rand zurück. Sie versteckten sich in den Gebäuden des Industriegebiets und schossen zurück, um die Eisenbahnbrücke über den Dnepr zu halten, die die Überreste der Garnison von Retschiza mit der Gomeler Gruppe deutscher Truppen im Gebiet zwischen Dnepr und Sosch verband. Das Fabrikgelände sollten die Einheiten der 194. Schützendivision befreien“, erzählt Natalja Sajewa.
Der Unteroffizier der Kompanie des 3. Bataillons des 194. Schützenregiments, Alexej Morosow, war einer der ersten, der in die Stadt vorstieß und auf dem Gebäude des Pädagogischen Technikum die Rote Fahne hisste – das Symbol des Sieges. Die Faschisten versuchten, von Süden her in Retschiza einzudringen, wurden dort jedoch am Stadtrand von den Truppen der Belarussischen Front aufgehalten. Von Osten her rückte das Schützenkorps der 48. Armee vor, das die für die Verteidigung der Stadt bestimmten feindlichen Kräfte band.
„Die Kämpfe waren heftig. Dennoch war Retschiza am Mittag des 18. November 1943 vollständig von den Deutschen befreit. Der gleichzeitige Angriff zweier Armeen aus verschiedenen Richtungen verhinderte, dass die Faschisten die verminten Gebäude sprengten und sieben große Lagerhäuser mit Waffen und Munition abtransportierten oder zerstörten. Der Oberbefehlshaber sprach allen Truppen, die die Stadt befreit hatten, seinen Dank aus. Und 21 Militäreinheiten wurde der Ehrenname „Retschizki“ verliehen.“
Bereits am Abend des 18. November wurde in Moskau zu Ehren der Befreiung der belarussischen Stadt der erste Salut abgefeuert: 124 Geschütze feuerten 12 Artilleriesalven ab. Bis zum Tag des Sieges blieben noch anderthalb Jahre.
Diese Straßen tragen ihre Namen

Worontschuk-Straße
Andrej Worontschuk wurde am 15. Juni 1915 im Dorf Gorwal geboren. Ab 1943 befehligte er als Leutnant die Batterie des 236. Schützenregiments der 106. Schützendivision der 65. Armee der Zentralfront. Er zeichnete sich während der Schlacht um den Dnjepr vom 15. bis 17. Oktober 1943 aus. Mit den Geschützen der Batterie von Leutnant Worontschuk wurden fünf feindliche Feuerstellen zerstört. Auf dem am Westufer des Flusses eroberten Brückenkopf widerstand Andrej Jakowlewitsch drei Tage lang den heftigen Angriffen der Faschisten und sprente persönlich einen Panzer mit einer Granate. Er wurde verwundet und erlitt eine Gehirnerschütterung, verließ aber das Schlachtfeld nicht.
Er nahm an der Siegesparade teil. Er wurde mit der Medaille „Goldener Stern“, dem Lenin-Orden, zwei Orden des Vaterländischen Krieges 1. Grades, zwei Orden des Roten Sterns und vielen Medaillen ausgezeichnet.
Uljanow-Straße
Pjotr Uljanow wurde 1926 geboren. Mit 15 Jahren wurde er Partisan. Der kleine, unscheinbare „Petja Malenki“ (Peter der Kleine) war Späher der Woroschilow-Einheit. Er nahm an Kampfhandlungen teil. Besonders hervorgetan hat er sich bei einem Hinterhalt auf der Straße zwischen Retschiza und Choiniki: Die Partisanen töteten 9 Soldaten und 2 Offiziere und erbeuteten 2 Maschinengewehre, Gewehre und Pistolen.
Anfang Sommer 1943 kam er zur Brigade-Reiteraufklärung – dort wurden aus allen Truppen die besten Kämpfer ausgewählt, darunter auch Pjotr. Im August fuhr er mit zwei Partisanen in das Dorf Soltanowo. Unterwegs gerieten sie am Rande des Dorfes in einen Hinterhalt. Seine beiden Kameraden wurden getötet. Man wollte ihn gefangen nehmen, aber der Junge beschloss, sich nicht lebend zu ergeben, und erschoss sich.
Massalski-Straße
Wladimir Massalski wurde am 21. Januar 1920 in Retschiza geboren. Seit Juni 1941 kämpfte er an den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges. Seine Heldentat vollbrachte er in der Schlacht bei Krasnoje Selo um den Berg Woronja. Massalski wurde zweimal verwundet, kämpfte aber weiter. Erst nach seiner vierten Verwundung, als er das Bewusstsein verlor, übergab er das Kommando an seinen Stellvertreter.
Am 13. Februar 1944 wurde Massalski der Titel „Held der Sowjetunion“ verliehen, zusammen mit dem Lenin-Orden und der Medaille „Goldener Stern“. Er durchbrach die Blockade Leningrads und befreite Estland und Lettland. Für seine Tapferkeit und seinen Mut wurde er mit dem Lenin-Orden, zwei Orden des Roten Banners, dem Suworow-Orden 3. Grades, dem Alexander-Newski-Orden und dem Roter Stern sowie mit Medaillen ausgezeichnet.
Jelena IWASCHKO
Zeitung „7 Tage“