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12 Dezember 2025, 21:21

Iwje: Die Stadt der vier Konfessionen. Hier befindet sich die älteste Moschee in Belarus 

Iwje nennt man die Stadt der vier Konfessionen. Hier leben Katholiken, Orthodoxe, Muslime und Juden auf dem engsten Raum. Die Stadt gilt auch noch als Mekka der belarussischen Tataren. In diesem Kreisstadt befindet sich seit über 140 Jahren eine einzigartige Moschee – ein spirituelles Zentrum der belarussischen Muslime. Wir besuchten dieses Gebetshaus, machten uns mit seiner Geschichte und Traditionen des Islam vertraut. Außerdem haben wir erfahren, wie sich das Leben der Moschee nach der Erlangung eines besonderen Status verändert hat.

Die älteste unter den funktionierenden 

Muslime verrichten fünf Pflichtgebete am Tag - in der Regel zu Hause, außer an Freitagen und Feiertagen. Wir kommen in das Tatarenviertel am Freitag morgen an, just zum Abschluss des morgendlichen rituellen Gebets. Wir gehen durch den gepflegten Innenhof der Moschee, wo viele Thuje-Bäume wachsen. In der Mitte stehen ein Jugendstil-Gebetshaus aus Holz, ein Minarett mit einem hohen Turm und eine Galerie. Der Imam Adam Radezki, eine wunderschön bestrickte Takke auf dem Kopf, wartet am Eingang bereits auf uns. 

„Die Moschee in Iwje ist die älteste funktionierende Moschee auf dem Territorium von Belarus. Sie wurde zwischen 1882 und 1884 mit Mitteln der örtlichen Gutsbesitzerin, der katholischen Gräfin Elfriede Samoiskaja, gebaut. Sie hat das Geld für den Kauf von Holz bereitgestellt“, erzählt der Imam die Entstehungsgeschichte dieses muslimischen Heiligtums im Kreis Iwje. Wir gehen hinein. 
Ursprünglich war die Moschee bescheiden und unterschied sich kaum von anderen Gebäuden, die sich im Tataren-Viertel befanden. Im Zentrum Europas war es damals schwierig, eine Genehmigung für die Errichtung eines Gebetshauses für Muslime zu erhalten.

Ein wichtiger Fakt: Die Moschee in Iwje hat ihre Türen nie geschlossen. Weder in Zeiten der antireligiösen Politik der Sowjetunion noch während der deutschen Besatzung. Wie durch ein Wunder wurde dieses Gebäude nicht zerstört. Aber eine richtige Erneuerung war dringend nötig. In den Jahren 2014-2017 fanden in der Moschee Iwje groß angelegte Restaurationsarbeiten statt, danach sah sie so aus wie auf den historischen Bildern aus dem frühen 20. Jahrhundert. Als Vorlage für das Erscheinungsbild diente ein altes Foto aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, das von einem Soldaten vor dem Hintergrund der Moschee gemacht wurde.

Nachkommen tapferer Krieger 

Die Geschichte dieser Moschee ist eng mit den Tataren verbunden, die sich auf den belarussischen Territorien bereits im XIV-XV Jahrhundert niedergelassen haben. Das waren tapfere Krieger der Goldenen Horde, die der Fürst des Großfürstentums Litauen zum Schutz der Grenzen von den Kämpfern des Teutonischen Ordens eingeladen hatte.

Die ersten Tataren ließen sich in Iwje nieder, als der Fürst Witowt ihnen kleine Landanteile schenkte, als Dank für ihre Teilnahme an der Schlacht bei Tannenberg, in der der entscheidende Sieg über die Armee des Deutschen Ordens gewonnen wurde. Neben Soldaten wurden auch gefangene Tataren und Flüchtlinge aus der Krim in die örtliche Gemeinde aufgenommen. Die Zeit verging. Die Tataren wurden unter der lokalen Bevölkerung assimiliert. Heute leben in Iwje etwa 500 Nachkommen alter tatarischer Familien. Jedes Jahr kommen Muslime aus verschiedenen Teilen von Belarus und sogar aus dem Ausland zum Kurban Bayramı und Uraza Bayram, um an einem festlichen Gebet teilzunehmen. Die Moschee in Iwje ist nicht nur für die hiesigen Tataren zu einem religiösen Zentrum geworden. 

Der Ruf des Muezzins

Adam Radezki lädt uns in das Allerheiligste ein, den Hauptsaal der Moschee. Hier beten Männer an Feiertagen und Freitagen. Wir ziehen unsere Schuhe aus und gehen in einen geräumigen Raum, der mit einem warmen Teppich bedeckt ist. In der Mitte des Saals, auf einem Treppenpodest, der Minbara, liegen mehrere Korane. Eines der Exemplare des Heiligen Buches in einer speziellen vergoldeten Hülle. Traditionell steht Adam Radezki an der Spitze der Betenden, der Mekka zugewandt. Dahinter stehen ältere Männer, die Gebete auf Arabisch lesen können. An der Rückwand des Gebetsraums befinden sich Bänke: dort können ältere Personen oder Gäste sitzen, aber aich Nicht-Muslime. Frauen beten in ihrer Hälfte. In den Ländern, wo viele Muslime leben, ruft der Muezzin über spezielle Lautsprecher auf dem Minarett die Leute zum Gebet zusammen. In Iwje greift der Muezzin dafür zu einem Telefon oder lädt die Gemeinde über Messenger ein. 
Gebetet wird in der Moschee in zwei Sprachen - Arabisch und Russisch. Wichtig ist, dass die Moschee nicht nur eine religiöse, sondern auch eine bildende Funktion erfüllt. Die Kinder lernen hier Arabisch und beherrschen die Grundlagen des Islam. 

Nachdem die Moschee in Iwje den Status eines spirituellen Islam-Zentrums erhalten hat, wird sie sehr intensiv von Touristen besucht, die an Wochenenden aus Grodno und Minsk hierher kommen, um sich über verschiedene Themen zu informieren. 
„Am Freitag kommen zwischen 50 und 70 Gläubige in die Moschee“, erzählt Adam Sulejmanowitsch. An Feiertagen können sich hier bis zu 300 Menschen im Alter von 40 Jahren und älter versammeln. Manche bringen Kinder mit, die bereits wissen, wie sie sich beim Gebet verhalten sollen.

Wegweiser des Glaubens

An Wochentagen beten die Gläubigen zu Hause nach Hamail (kleinen Büchern), die tägliche Gebete, einzelne Koran-Suren, Anweisungen und religiöse Riten enthalten. Das sind solche spirituellen Führer der tatarischen Familie. Seit Kindheit lernt man hier Arabisch, viele Hamail-Bücher sind in Arabisch geschrieben, ebenso wie auf Russisch und Belorussisch. Manche Familien haben ihre Kultur und Religion teilweise bewahr, aber nicht die Sprache. Deshalb haben die lokalen Hamail-Bücher nach Ansicht von Wissenschaftlern einen besonderen Wert für die Geschichte von Belarus und den traditionellen Islam auf unserer Erde.

Adam Radezki ist nicht der erste Imam in seiner Familie. Sein Großvater Ibrahim lebte im 19. Jahrhundert im Dorf Dowbutschki, unweit von Burg Krewa. Er war der erste geistliche Führer der Gemeinde. Omas Bruder Suleiman lebte im ostpolnischen Kruszyniany im 20. Jahrhundert – er war der zweite geistliche Führer der Gemeinde. 

Arabisch lernte Adam zuerst von den hiesigen Alten. Später setzte er seine Ausbildung in der Türkei fort, bei einem speziellen Koran-Kurs. Adam Suleimanowitsch absolvierte auch die Janka-Kupala-Universität, Grodno, im Fach Philologie, brachte eine Zeit lang den Kindern in einer örtlichen Schule belarussische Sprache und Literatur bei. Heute erteilt er Privatunterricht. 

Besondere Riten 

Wir wollten vom Imam wissen, welche Traditionen der Islam hat, wie Kinder im Glauben erzogen werden, was die Ehe und was die großen Sünden für einen Muslim sind. 

„Die Einweihung der Kinder sieht so aus: In der dritten oder vierten Geburtswoche wird dem Säugling ein Gebet ins linke und ins rechte Ohr vorgelesen. Dieser Ritus wird Azan genannt. So bekommt das Baby Schutz und soll gut schlafen“, erzählte Adam Radezki über ein Ritual zur Heranführung der Kinder an Islam. 

Die Eheschließung - Nikah - wird in einer Moschee oder zu Hause zelebriert, präsent sind der Imam und die Zeugen. 
Wenn ein Muslim oder eine Muslimin einen Ritus nicht ausführt, ist das ihre Sünde, und sie müssen Allah direkt um Vergebung bitten. Der Imam lässt keine Sünden ab. Und noch ein wichtiger Unterschied zu christlichen Traditionen: Es gibt kein Sondergebet für die Verstorbenen. Sie werden auch nicht in anderen Gebeten erwähnt. Ein Bestattungsgebet auf Arabisch, das von einem Verwandten oder Imam gelesen werden kann, findet zu Hause und in der Nähe des Friedhofs statt. Die Tataren von Iwje haben einen separaten Ort zum Begräbnis. 

Muslime haben zwei Hauptfeiertage im Jahr - Kurban Bayramı und Uraza Bayram. Neben dem festlichen Gebet werden während der Kurban Bayramı Tiere rituell geopfert. In diesem Sommer waren das ein zweijähriger Stier und fünf Lämmer. 

„Traditionell wird das Opferfleisch zu einem Drittel an Bedürftige verteilt, ein Drittel gejt an die Verwandten und den Rest kann man selbst behalten“, erklärt der Imam. In Iwje leben etwa 150 muslimische Familien. 

Einzigartige Mugir-Gemälde

Während der Führung durch die Moschee macht Adam Radezki uns darauf aufmerksam, dass ihre Innenwände mit Gemälden (Mugir) geschmückt sind, auf denen Zitaten aus dem Koran zu lesen sind. Als wir uns einem Mugir-Gemälde nähern, liest der Imam das dort geschriebene Zitat auf Arabisch vor. Seine Stimme erfüllt uns mit besonderer Ehrfurcht und Respekt gegenüber der Moschee. Genauso empfinden seine Worte auch die Gläubigen, die hierher zum Gebet kommen.

Im Museum für nationale Kulturen Iwje erfahren wir mehr über Mugir-Gemälde, besondere Kunstwerke, auf denen belarussische Pflanzen und Blumen abgebildet sind, die durch Zitate aus dem Koran organisch ergänzt werden.
 
„Die Einheimischen konnten Arabisch, deshalb maltehn sie diese Mugir-Gemälde“, erzählt Museumsleiterin Aljona Wiktorowa. „In der Regel handelt es sich um fast kindische Zeichnungen auf Papier, Stoff, Glas. Sie enthalten Suren aus dem Koran. Am häufigsten wird der gebräuchlichste Ausdruck verwendet: „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet.“
Im Museum lernen wir einen der Schöpfer von Mugir-Gemälden kennen. Selim Iljasewitsch nahm an der Restaurierung der Moschee in Iwje teil. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums und Lehrer an der Kinderkunstschule. Er kreiert nicht nur Mugir-Bilder selbst, sondern gibt dieses Wissen an Kinder weiter. 
Das Museum wurde kürzlich um ein einzigartiges Exponat reicher - ein Mugir, das auf einem selbstgemachten Handtuch gestrickt wurde. 

„Sehen Sie, dieses Handtuch ist ganz einfach, kein festliches Exemplar. Bestickt mit großen Blumen, wie sie früher unsere Großmütter auf Bettdecken und Kissenbezügen gemacht haben, und daneben ein arabischer Sura-Text aus dem Koran“, erzählt die Museumsdirektorin.

Im Jahr 2024 wurde die Kunst „Herstellung von Mugir-Gemälden“ aus Iwje in die Liste des immateriellen Erbes aufgenommen. Sie erhielt den Status einer historischen und kulturellen Kostbarkeit.
Zuvor waren das Ritual „Die drei Könige“, lokale Strohprodukte und Kartoffelgerichte in diese Liste aufgenommen worden. 

Die Tatarengemeinde aus Iwje ist die zweitgrößte Gemeinde in Belarus.

„In unserer Stadt leben seit so vielen Jahrhunderten Vertreter verschiedener Konfessionen und Kulturen, in Frieden und Einvernehmen“, sagt die Museumsleiterin. „Vor dem Großen Vaterländischen Krieg lebten in Iwje 70 Prozent der Juden, heute sind 70 Prozent der Bewohner - Vertreter des katholischen Glaubens und weitere 15 Prozent sind orthodoxe Christen und Muslime. Aber es sind die Tataren, die sich zum Islam bekennen, sowie die Moschee, die als spirituelles Zentrum des Islam in unserem Land anerkannt wurde, die Iwje so einzigartig machen. Eine Stadt, die keiner anderen Stadt in Belarus ähnlich ist. Und solange der Muezzin freitags und an Feiertagen die Gläubigen zum Gebet aufruft, solange einfache Muslime an Wochentagen in ihren Häusern das Gebet verrichten, dem Mekka zugewandt, solange ihre Kinder den Koran studieren, lebt der belarussische Islam weiter.
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