Wenn man die Erinnerungen des Belarussen Nikolai Kutowski an die Moskauer Siegesparade 1945 liest, fühlt man sich um 80 Jahre zurückversetzt und landet auf dem Roten Platz. „Ich fuhr in der dritten Reihe vom Mausoleum“, schrieb der Veteran. „In der Nähe der Basilius-Kathedrale teilte sich unsere Kolonne in zwei Teile, die erst hinter dem Platz wieder zusammenschlossen. Es war ein Anblick, den man nie vergisst!“
Freiwillig an die Front
Nikolai Kutowski ist seit über 30 Jahren nicht mehr unter uns, aber in der Mittelschule in Raduscha im Kreis Schlobin, wo der Veteran fast sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, wird er bis heute in Ehren gehalten – sowohl von den Schülerinnen und Schülern als auch vom Kollegium. Dank der Hilfe der Schulleitung gelang es uns, die Enkelin dieses legendären Mannes zu finden. Sie lebt mit ihrer Familie in Chojniki. Als Tatjana Kutowskaja von dem Projekt erfuhr, erklärte sie sich nicht nur sofort bereit, die Geschichte ihrer Familie zu erzählen, sondern stellte der Redaktion auch eine Kopie eines handschriftlichen Briefes ihres Großvaters zur Verfügung, in dem er die Vorbereitungen zum Siegesparade 1945 sowie den Tag selbst ausführlich schildert.
Nikolai Kutowski wurde am 17. Dezember 1920 im Dorf Raduscha im Kreis Schlobin geboren. Die Familie von Kutowski war nicht reich, die Eltern betrieben Landwirtschaft und arbeiteten auf dem Feld. Der Sohn dagegen zeigte schon früh großes Interesse an den Naturwissenschaften – insbesondere Physik und Mathematik lagen ihm sehr. Nach dem Schulabschluss besuchte er einen sechsmonatigen Lehrerkurs in Rogatschow und ging anschließend zum Arbeiten in das Dorf Skepnja im Kreis Streschin (heute Teil des Kreises Schlobin im Gebiet Gomel). Hier wurde er vom Krieg überrascht.
Die deutschen Truppen rückten rasch vor, die Nazis marschierten bereits Anfang Juli 1941 in Schlobin ein. Nikolai Kutowski wurde nicht einmal mehr zur Armee einberufen. Da beschloss er: Dann gehe ich eben freiwillig! Zusammen mit einigen Kameraden machte er sich am 9. Juli zu Fuß auf den Weg nach Gomel, um die sowjetischen Truppen einzuholen.
„Mein Großvater und seine Kameraden schlossen sich erst bei Orjol einer Einheit der Roten Armee an. Kaum hatten sie sich angeschlossen, gerieten sie auch schon in einen Kessel, aus dem sie sich nur unter schweren Verlusten befreien konnten. Aber mein Großvater überlebte und setzte den Kampf gegen den Feind fort“, erzählt die Enkelin des Veteranen. „Die Soldaten der Roten Armee wurden in die Stadt Troizk im Gebiet Tscheljabinsk verlegt.“
„Er war mutig und furchtlos“
Sehr bald wurden einige der gebildeten Soldaten aus der Einheit ausgewählt und nach Miass im Gebiet Tscheljabinsk geschickt, um dort eine Artillerieausbildung zu absolvieren.
„Der Lehrgang verlief in beschleunigtem Tempo, und bereits nach einem Jahr – er schloss die Schule mit Auszeichnung ab – wurde mein Großvater im Rang eines jüngeren Leutnants an die Karelische Front versetzt, zum 46. Garde-Mörserregiment der 7. Armee. Dort diente er zunächst als Kommandeur eines Feuerzuges, dann als Kommandeur einer Batterie und später als Kommandeur einer Parkbatterie“, erzählt seine Enkelin.
Als Teil des 46. Garde-Mörserregiments nahm Nikolai Kutowski an den Verteidigungskämpfen auf der Halbinsel Kola und bei Murmansk teil. Von Juni bis August 1944 war er auch an der Swir-Petrosawodsker Operation beteiligt und wirkte an der Befreiung Kareliens mit. Für die Einnahme einer wichtigen Ortschaft wurde er mit dem Orden des Roten Sterns ausgezeichnet.
In einem seiner Auszeichnungsblätter, das persönlich vom Kommandeur des 46. Garde-Mörserregiments unterzeichnet wurde, heißt es: „Vom 21. bis 28. Juni 1944 zeigte Genosse Kutowski Mut und Furchtlosigkeit. Unter starkem feindlichem Beschuss durch Artillerie, Mörser, Maschinengewehre und Maschinenpistolen richtete er die Waffen seines Zuges schnell und präzise aus. Beim Nachladen der Waffen begeisterte er die Soldaten seines Zuges durch sein persönliches Beispiel an Mut. Ohne auf den Beschuss zu achten, war sein Zug immer als erster kampfbereit. Am 27. und 28. Juni wurde die Feuerstellung systematisch mit Artillerie-, Mörser-, Maschinengewehr- und Maschinenpistolenfeuer beschossen, aber Genosse Kutowski inspirierte die Soldaten mit seinem eigenen Beispiel an Mut und Gelassenheit, die gestellte Aufgabe zu erfüllen und trug so entscheidend zu einem rechtzeitigen und präzisen Feuerauftrag bei.“
Auf zur Parade!
Im Februar 1945 wurde Nikolai Kutowski nach Moskau entsandt, um neue Technik zu erhalten und Verstärkung für die von ihm geführte Katjuscha-Batterie zu übernehmen. Dort erlebte er auch den 9. Mai. Schon bald wurde sein Regiment in die Liste der Teilnehmer an der Siegesparade aufgenommen. Nachdem die Soldaten neue Fahrzeuge und Raketenwerfer erhalten hatten, begannen sie mit den Vorbereitungen.
„Als mein Großvater sich an dieses Ereignis erinnerte, erzählte er, dass sie die Nachricht von der Teilnahme an der Siegesparade mit großer Freude aufgenommen hatten. Die Soldaten waren zwar enttäuscht, dass sie nicht mit ihren berühmten „Katjuschas“, sondern mit Granatwerfern auf Lastwagen über den Roten Platz fahren mussten. Aber sie konnten nichts daran ändern“, sagt die Enkelin des Veteranen. „Die Proben fanden unter anderem auf dem Gartenring statt; nachts kamen sie dort an, tagsüber standen die Fahrzeuge in der Nähe der Monumentalskulptur „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ auf dem Ausstellungsgelände der WDNCh. Eigentlich gehörte mein Großvater zur Reserve, doch als ein Kamerad erkrankte, rückte er in die Stammformation nach.“
„Vor Beginn der Siegesparade nahmen wir mit unseren Fahrzeugen unsere Position auf dem Manezh-Platz ein”, schrieb der Veteran. „Dort kam Marschall Schukow auf einem weißen Pferd zu uns geritten. Nachdem er unsere Bereitschaft überprüft hatte, begab er sich zum Roten Platz. Ich fuhr in der dritten Reihe vom Mausoleum aus gesehen. In der Nähe der Basilius-Kathedrale teilte sich unsere Kolonne in zwei Teile, die erst hinter dem Platz wieder zusammenschlossen. Es war ein Anblick, den man nie vergisst.“
Die Siegesparade, an der er als Teil des 5. Bataillons des kombinierten Regiments der Karelischen Front teilnahm, fand am 24. Juni 1945 statt. Und schon am 26. brach der Rotarmist zusammen mit seinem 46. Garde-Mörserregiment nach Osten auf, um als Teil der Transbaikalfront gegen Japan zu kämpfen. Seinen Militärdienst beendete er im Dezember 1946 in Port Arthur im Primorsk-Militärbezirk im Rang eines Hauptmanns.
Trotz aller Kriegsjahre verlor unser Held seine Liebe zum Lehrberuf nie. Daher begann er kurz nach seiner Rückkehr ins zivile Leben ein Studium am Lehrerinstitut in Gomel. Den größten Teil seines Lebens unterrichtete er anschließend an der Mittelschule von Raduscha. Im Jahr 2020 wurde sein Name auf der Gedenkallee des Schulgeländes verewigt – sie ist jenen Pädagogen gewidmet, die an der Front gekämpft haben. Und zum 80. Jahrestag der Siegesparade, am 24. Juni 2025, wurde nahe dem Friedhof, auf dem der Frontkämpfer seine letzte Ruhe gefunden hat, eine Gedenktafel mit Informationen über ihn enthüllt.
„Wir bewahren die Erinnerung an unseren berühmten Landsmann, der den ganzen Krieg durchlebt hat, sorgfältig und erzählen unseren Schülern immer von ihm. Die Kinder treffen sich sehr gerne mit den Familienangehörigen von Nikolai Kutowski und befragen sie über die Heldentaten des Rotarmisten“, gesteht die Direktorin der Bildungseinrichtung, Jelena Drosdowa.
